Frage Thread für ängstliche und traumatisierte Hunde

  • Das kam jetzt vielleicht falsch rüber. Ich würde Deprivation und "Angsthund" überhaupt nicht streng trennen wollen.

  • Also der Udo ( :D ) schreibt folgendes in seinem Buch:


    "Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass eine gewisse Vorsicht und Furcht vor unbekanntern, nicht abschätzbaren Dingen (auch Personen) für Wildtiere überlebensnotwendig und daher durchaus nicht anormal, geschweige denn pathologisch sind. Der draufgängerische, "toughe" Rambo-Typ wäre in natürlicher Wildbahn einem Selbstmörder auf Kamikaze-Trip gleichzusetzen, völlig untauglich, um das eigene Überleben und das Überleben der sozialen Gruppe, in welcher er lebt, zu gewährleisten. So gilt für das frei lebende Tier, in einem sicheren, klar strukturierten Sozialverband zu leben und Situationen und Umstände kennen und abschätzen zu lernen, um Kausalitäten herstellen zu können. Im wesentlichen ist dies für unsere Haushunde analog zu sehen.


    [...]


    Unsicherheit: Einiges an Verhalten, das oft in den Angsttopf geschmissen wird. Es ist keine Angst, wenn ein Hund in unbekannten Situationen vorsichtig, zurückhaltend oder zögerlich ist, dies ist lediglich ein Persönlichkeitsmerkmal [...]. Unsicherheit kann eine mögliche Zurückhaltung auf eine vielleicht gefährliche Situation sein. Daraus kann aber auch Angst werden, nämlich dann, wenn man in solchen Situationen mehrfach unangenehme Erfahrungen macht.
    Ein unsicherer Hund ist aber immer noch uneingeschränkt handlungsfähig, sein Verhalten, sein Ausdruck zeigen, dass er sich nicht ganz wohl fühlt, er ist aber in jeder Situation noch in der Lage, kompetent zu handeln und das seiner Meinung nach richtige zu tun. Kommt es aber mehrfach zu unangenehmen Erfahrungen, kann tatsächlich daraus Angst und Furcht entstehen.


    Furcht: Furcht bezieht sich auf etwas ganz Konkretes, man hat eine Ursache, einen konkreten Reiz, die bzw. den man auch durch konkrete Maßnahmen bekämpfen oder sich hier entziehen kann. Sei es davonrennen oder kämpfen, in jedem Falle wird das aktive Stresssystem die Steuerung übernehmen und im Körper die Oberhand bekommen.


    Angst: Angst ist unbestimmt, man hat die Erwartung, dass etwas Schlimmes passieren könnte, weiß aber nicht wo, wie und wann. Angst kann zu einer Lähmung des gesamten Verhaltens führen. Ein Hund in akuter Angst kann nicht mehr reagieren, und auch nur sehr eingeschränkt auf die Kommunikation seines Menschen ansprechen.


    Phobie: Aus konkreter Furch kann eine Phobie werden, wenn schon die geringsten, unverhältnismäßig kleinen auslösenden Reize zu einer völlig überzogenen Reaktion führen. So wurde im Seminar eines Tages von einem Hund berichtet, bei dem sich die von vielen Hunden gezeigte Furcht vor Heißluftballons mit der Zeit so stark steigerte, dass er beim Spazierengehen an jedem Balkon mit Satellitenschüssel und an jeder kugelförmigen Straßenlaterne völlig erstarrte. Jeder runde Gegenstand über Kopfhöhe war bereits Auslöser für diese völlig überzogene Reaktion.



    Panik: Eine übersteigerte Reaktion der Angst kann zu Panik führen. Panikattacken, gekoppelt mit den körperlichen Symptomen wie Hecheln, erhöhte Herztätigkeit, Schweißabsonderung (beim Hund überwiegend über die Pfoten), Speichelfluss etc. könnte so schlimm werden, dass eines Tages nicht mehr die Angst vor der auslösenden Situation, sondern die Angst vor dem nächsten Angst- und Panikanfall die dominante Komponente in der Entstehung dieser Anfälle wird. Diese generalisierten Panikattacken sind ebenso wie die Angstzustände an sich eine schwer zu therapierende Erscheinung.



    [...]



    Präzisierend lässt sich zusammenfassen: Furcht richtet sich gegen etwas, was man erkennen kann, und aktiviert das Adrenalin-/Noradrenalin-System. Angst ist auf nicht greifbare allgemeine, unspezifische Empfindungen von Gefahr und Bedrohung ausgerichtet und aktiviert daher das Cortisolsystem." (Quelle: Hundeverhalten verstehen - Mein Hund hat Angst, von Petra Krivy und Udo Gansloßer)





    ERGO:
    Wenn ich mit meinem Hund Spazieren gehe und er schreckt vor jeder Mülltonne zurück, habe ich einen Furchthund?
    Wenn ich mit meinem Hund Spazieren gehe und er hat prinzipiell den Schwanz eingezogen, hört nicht richtig, schaut sich ständig nach allen Seiten um, da er nicht weiß, wo die Gefahr lauert, habe ich einen Angsthund?
    Wäre jetzt zumindest meine schlussgefolgerte Definition.


    Was denkt ihr so?

  • Der erste Link beschreibt Hunde mit Deprivationssyndrom. Das allein gibt es ja schon in vielen Abstufungen. Da sehe ich keine Definition von "Angsthund".


    Ich denke, dass meine Liese ein "echter" Angsthund war.
    Außerhalb der Wohnung war anfangs alles gruselig. Sie konnte sich draußen nicht lösen, drehte sich in der Leine, wenn ein Auto vorbeifuhr oder Menschen in der Nähe waren.
    Ich vermute, dass Deprivation ihren Anteil daran hatte.
    So genau kann man das ja nicht trennen.


    Naja, eigentlich schon. Deprivation ist die Ursache (zumindest teilweise), Angst ist das Symptom. Aber deine Liese, frolleinvomamt, würde ich dann auch eher als Angsthund bezeichnen. Wobei "alles" eigentlich fast schon wieder konkrete Dinge impliziert. Also es waren die konkreten Auslöser (= Autos, Menschen), die dann ihre Reaktion ausgelöst haben. Aber vielleicht kann man ab einer bestimmten Anzahl von Auslösern dann auch schon wieder von Angst sprechen?
    Interessantes Thema auf jeden Fall, so ganz klar bin ich mir aber noch nicht drüber.


    edit: Wie war Liese denn drauf, wenn keine Furchtauslöser da waren?

  • Angst, Unsicherheit, Panik, Deprivation... das alles wird viel verwendet und viel diskutiert. Für diese Worte gibt es sicherlich auch halbwegs klare Definitionen. "Angsthund" höre ich meist als Beschreibung der Hunde von Tierschutzvereinen. Da fällt dann aber oft alles vom schlecht sozialisierten Junghund bis zum vor Panik erstarrten und deprivierten Althund drunter.


    Ich mag den Begriff nicht, setzt er dem Tier doch einen sehr starken Stempel auf. Wenn es dann noch heißt der Hund sei traumatisiert... dadurch macht man es sich selbst nur schwerer.


    Bei dem Hund der Themenstarterin klingt es eher nach einem klassischen Junghund mit gewissen Unsicherheitsmomenten, der das Leben in einer Familie noch nicht kennt. Da wird sich sehr Vieles sehr schnell finden.


    In meinem Fotothread berichte ich auf den ersten Seiten viel von der ersten Zeit des Trainings mit Kito. Er kam nach Deutschland und lag wochenlang fast nur in einer kleinen Box, fraß nur nachts und brauchte 1/2 Jahr Training bis Anfassen möglich war.
    Ihn würde ich als sehr schlecht sozialisiert und vom Temperament her sehr sensibel und reaktiv bezeichnen. Er steht sich bei vielem durch sein Wesen selbst im Weg, ist aber alles in allem ein wirklich unkomplizierter und meist entspannter Wohnungshund geworden. Das er ein tatsächliches Trauma erlitten hat glaube ich nicht einmal, er hatte nur nen doofen Start ins Leben. Vielleicht ist das auch interessant.

  • Wenn ich mit meinem Hund Spazieren gehe und er schreckt vor jeder Mülltonne zurück, habe ich einen Furchthund?
    Wenn ich mit meinem Hund Spazieren gehe und er hat prinzipiell den Schwanz eingezogen, hört nicht richtig, schaut sich ständig nach allen Seiten um, da er nicht weiß, wo die Gefahr lauert, habe ich einen Angsthund?
    Wäre jetzt zumindest meine schlussgefolgerte Definition.

    Interessante Idee. Könnte sein. Und vielleicht hilft diese Überlegung mir auch dabei, mir endlich die Unterschiede zwischen Angst und Furcht etc. zu merken.


    Aber ich für meinen Teil schlussfolgere erst mal: Es gibt anscheinend keinen "Angsthund" in der Biologie. Deshalb kann man auch nicht sagen, "dies ist ein echter Angsthund" und "dies ist kein echter Angsthund."


  • Naja, eigentlich schon. Deprivation ist die Ursache (zumindest teilweise), Angst ist das Symptom.

    Absolut. Ich hatte in einem späteren Beitrag ja noch mal geschrieben, dass ich das nicht trennen wollte mit dem Satz. Mir ging es bei dieser ganzen Fragerei wirklich nur um den Begriff "Angsthund."

  • Absolut. Ich hatte in einem späteren Beitrag ja noch mal geschrieben, dass ich das nicht trennen wollte mit dem Satz. Mir ging es bei dieser ganzen Fragerei wirklich nur um den Begriff "Angsthund."

    Entschuldigung, hat vielleicht nicht ganz gepasst, dich da zu zitieren, hab deinen Beitrag gesehen:


    Das kam jetzt vielleicht falsch rüber. Ich würde Deprivation und "Angsthund" überhaupt nicht streng trennen wollen.

    Hatte mich mit der Deprivation als Ursache und der Angst als Symptom eigentlich auf die Aussage von frolleinvomamt bezogen. In Gansloßers Sprache könnte man wohl sagen, per definitionem kann man sie sehr eindeutig trennen, aber im kausalen Sinne eben nicht. (P.S. Da hört mein Können an geschwollenen Worten dann auch schon langsam auf. :D Gansloßer und Krivy sind manchmal wirklich nicht ganz verständlich in dem Buch, es ist halt teilweise seeehr wissenschaftlich.)



    Wollte jetzt gerade fragen, ob wir die Diskussion nicht in den Angsthunde-Thread verlegen wollen, aber nachdem ich da nun ein bisschen reingelesen habe, erscheint es mir doch nicht mehr sinnvoll, da das hier ja nun doch eher eine allgemeine Diskussion ist, während im Angsthunde-Thread die Leute ihre ("Angst"-)Hunde vorstellen und über konkrete Probleme und Lösungen geschrieben wird. Was meint ihr?

  • Wobei "alles" eigentlich fast schon wieder konkrete Dinge impliziert. Also es waren die konkreten Auslöser (= Autos, Menschen), die dann ihre Reaktion ausgelöst haben. Aber vielleicht kann man ab einer bestimmten Anzahl von Auslösern dann auch schon wieder von Angst sprechen?

    Wenn die Angst so generalisiert ist, dann hat die Liste der konkreten Auslöser den Umfang des Telefonbuchs von New York. ;)

  • Wie hast du mit Liese denn daran gearbeitet?

    Ganz einfach.
    Ich hatte keine Möglichkeit, sie sehr isoliert zu halten (Etagenwohnung, kein Garten).
    Dazu berufstätig.


    Ich habe es einfach durchgezogen. Morgens raus. Pinkel oder nicht. :ka: Nachmittags raus, abends im Dunklen raus (das fand sie lange noch gruselig).
    Nach 14 Tagen war ihr das Koten in der Wohung fies.
    Nach 4 Wochen hatte sie die Pinkelecken draußen für sich entdeckt und fand Markieren auch super.


    An die Autos hat sie sich schnell gewöhnt.
    Aber Gruppen von Menschen hinter uns waren sehr lange bedrohlich.
    Und sie ist immer noch ein "Ein Mensch Hund". Andere Leute braucht sie nicht.

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