Die große kleine Leserunde- 'der Trafikant' von Robert Seethaler
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Ich habe den Roman beendet und bin sehr angetan davon. Die bewegenden Aspekte des Buches, ob Briefinhalte zwischen Franz und seiner Mutter, ob Begegnungen mit dem 'Deppendoktor' S. Freud, ob innere Monologe des jungen Franz, ob das Schicksal von Otto Trsnjek, Freud, Franz, seiner Mutter, Anezka bzw. das Buchende an sich: Seethaler versteht es so zu schreiben, dass mal Leichtigkeit und Humor, mal Ernsthaftigkeit und Traurigkeit bzw. Melancholie mitschwingen.
Dieter Wunderlich schrieb in seiner Buchbesprechung sehr treffend: "Vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse entwickelt sich eine tragikomische Coming of Age-Geschichte mit märchenhaften Zügen. "Der Trafikant" ist großenteils aus der Perspektive des naiven Protagonisten geschrieben; zwischendurch aber auch aus anderen Blickwinkeln. Weil die Handlung bis in die Einzelheiten gut durchdacht ist und manches schon früh vorbereitet wird, greifen die Szenen in "Der Trafikant" wie gut geölte Zahnräder ineinander. Die Sprache ist so unaufgeregt, schnörkellos und bewusst einfach wie die berührende Geschichte, die Robert Seethaler chronologisch und ohne Effekthascherei erzählt." Robert Seethaler: Der Trafikant (Buchtipp)
Nach diesen allgemeinen Aussagen möchte ich einige Aspekte, die mich besonders interessierten, erwähnen - daher der Spoiler.
Der 17-jährige 'Burschi' vom Lande wird durch das Leben in der Großstadt, die Erfahrung von Liebeskummer und Lust sowie die erlebten politischen Umstürze in einem Wien der Zwischenkriegszeit innerhalb kürzester Zeit erwachsen. Am Buchende erinnert er sich an seine Ankunft am Bahnhof und muss über den Jungen von 'damals' lachen: "Wie lange ist das her? Ein Jahr? Ein halbes Leben? Ein ganzes?... Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass es diesen Buben nicht mehr gab. Weg war der. Abgetrudelt und untergegangen, irgendwo im Strom der Zeit." (S. 236)
Sehr schön erzählt sind die Begegnungen von Franz mit Dr. S. Freud, die in eine ungleiche Freundschaft münden, in der der berühmte Arzt dem naiven jungen Mann etwas über Psychoanalyse erzählt und sich mit ihm über die Liebe und die Katastrophen des Lebens (zu denen die 'braunen Horden' gehören) austauscht. Traurig ist es, dass der Jude Freud sich freikaufen muss, um ins Exil nach London gehen zu können und somit die ungewöhnliche Beziehung der beiden ein jähes Ende nimmt.
Die Beschreibungen des Abrutschens Österreichs in die NS-Diktatur sind sehr gelungen: Das tragische Schicksal einzelner Juden, Selbstmorde sozialistischer Regimegegner, die Misshandlungen Otto Trsnjeks - die wohl seinen Tod nach sich ziehen - und schließlich das Ende von Franz selbst berührten mich. Durch einen Akt des Widerstandes erinnert Franz noch einmal an den ermordeten Trafikbesitzer Otto und leitet sein eigenes Ende ein.
Auch die Träume von Franz, der er nach dem Rat des weisen Psychoanalytikers Freud jeden Morgen aufschreibt und aushängt in der Trafik, sind z.T. rätselhaft, z.T. Zeichen der Unruhe seines Unterbewussten. Im März 1945, fast sieben Jahre nach Franz' Verschwinden, liest Anezka den letzten Zettel an der Trafik und nimmt ihn mit, bevor sie der nächste Luftangriff auf Wien fliehen lässt. Ein tragischer Moment am Ende des Romans, der mich noch einmal berührte.
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Ich beginne nun heute mit dem Buch!
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Ich habe die ersten 60 Seiten gelesen und finde es bis hierhin wirklich toll!
Ich könnte mir gut vorstellen, dass dieses Buch ein kleines Schmuckstück in meiner Sammlung werden könnte. Die Voraussetzungen für ein etwaiges Bleiberecht sind bis dato sehr gut.
Der Erzählstil ist wirklich mehr als angenehm und so detailreich, dass man beim lesen das Zeitungspapier und die Zigarren riecht.
Ich freue mich aufs Weiterlesen. -
Ich habe jetzt mit ein paar Tagen Abstand nochmal in mich reingehorcht:
Einfach großartig: Die Sprache!! Die in unglaublicher Weise eine Atmosphäre lange vergangener Zeiten erweckt. Wie @Brauni2012 schreibt: Man kann es förmlich riechen.
Großartig auch die Beau Geste, mit der sich Franzl verabschiedet. Ich persönlich hätte ja einen Mittelfinger draus gemacht
Mir fehlt es etwas an den Charakteren. Bei den Damen habe ich ja schon gemeckert. Zieht sich aber auch bei den Herren durch, finde ich.
LG Nicole
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Ich bin durch. Hmm... schwer zu beschreiben was ich gerade danach empfinde.
Das Buch ist ein kleines Kunstwerk. Es wird auch ein Schmuckstück in meiner Sammlung bleiben, allerdings hinterlässt es bei mir ein Gefühl der „Unruhe“, „Unvollständigkeit“...
...wie ein kleiner Fetzen aus einer großen bewegenden Geschichte.
Der rote Faden fehlte mir etwas.
Ich weiß, dass das alles so gewollt ist, ich verstehe die Botschaft(en), aber es fällt mir schwer -aufgrund der o.g. Gründe- ein durchweg positives abschließendes Lesegefühl zu empfinden.
Das ist nicht weiter schlimm, aber einen weiteren Seethaler lese ich vorerst nicht. -
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@Brauni2012: Interessante Rückmeldung. Was ist für dich denn "unvollständig"?
Die meisten Protagonisten sind ja tot am Ende des Buches (Otto, Franz) bzw. werden wahrscheinlich in Kürze sterben (Freud) oder es ist unklar, ob sie den Krieg überleben (Anezka).
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@Brauni2012: Okay! Bin gespannt...
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Tja. Ich hatte das Buch vor einigen Tagen durch und habe auch schon ein paarmal versucht, was zu schreiben - und habe es dann gelassen... Ich hatte auch ein komisches Gefühl und weiß nicht recht, woran es liegt. Ich versuche es nochmal zu ergründen:
Die Atmosphäre, die Figuren: Alles so beiläufig und sicher skizziert, dass man glaubt, dabei zu sein. Aber da ist ziemlich viel Unschärfe an den Rändern, die man zuerst nicht bemerkt. Erst dann, wenn es zu Brüchen kommt...Die Charaktere sind eigenartig. Zum einen sind sie so treffend scharf gezeichnet, dass man sie gut zu kennen glaubt - und dann verhalten sie sich doch anders, als man es erwartet hätte. Das hat mich erst irritiert. Aber dann wurde mir klar, dass die Figuren dadurch mehr Tiefe gewinnen - ob mir diese zusätzliche Ebene jetzt bei jedem passt oder nicht.
Mir missfiel natürlich das Ende. Da veröffentlicht er seine Anklage mit einer gewaltfreien, subversiven Guerilla-Aktion: Wie brilliant! Und dann setzt der Idiot sich wieder in seine Trafik und lässt sich einkassieren. Er wusste doch nun wirklich aus erster Hand, dass die Nazis schon Leute für weniger drangekriegt haben: Ein unnötiger Selbstmord, ein Märtyrertum, das niemandem was nützt - da hätte ich mir gewünscht, dass der Franz seinen Widerstand einen Schritt weiter denkt. Den hielt da doch nichts, verdammt.
Aber dann fiel mir auf: Der Bengel war 18. Der hat wahrscheinlich wie alle 18-jährigen geglaubt, dass er unverwundbar ist – weil er doch Recht hat...
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Ich versuche es jetzt nochmal @37mara73. Der Post von @Phantomas hat mir etwas geholfen.
Ich glaube, dass es sich „unvollständig“ anfühlt, weil uns hier ein kleiner Einblick in einen Lebensabschnitt eines Menschen gezeigt wird, der zum Ende unnütz stirbt. Er wollte ein Zeichen setzen. Das hat er in meinen Augen aber nicht.
Irgendwie fehlt mir der Sinn der Geschichte. Ich weiß nicht, ob „Sinn“ der richtige Ausdruck ist. Eine Erzählung muss ja nicht zwingend einen Sinn ergeben. Aber so in etwa empfinde ich nun nach dem Buch. Was will mir der Autor mitgeben?
Zudem tut mir die Mutter leid. Die Aktion von Franz war in meinen Augen halsbrecherisch egoistisch. Trotzdem er gute Absichten hatte. Ich glaube besser kann ich es nicht erklären. -
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