Für die Leseratten - Der Bücherthread - Teil 2

  • "Sexy But Psycho: How the Patriarchy Uses Women’s Trauma Against Them" von Dr. Jessica Taylor


    Dr. Jessica Taylor hat einen PhD in Forensischer Psychologie und ist vor allem für ihren Aktivismus bekannt. Sie setzt sich für Mädchen und Frauen ein, die Opfer s*xueller Gewalt wurden, und gründete mit VictimFocus auch ein eigenes Unternehmen, dessen Ziel es ist, für die bessere Versorgung und Entpathologisierung von missbrauchten Mädchen und Frauen einzutreten und gesellschaftlichen Wandel zu bewirken.

    Jessica Taylor hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, gängige psychiatrisch-psychologische Prozesse kritisch zu hinterfragen.

    In "Sexy But Psycho" befasst sich Taylor vor allem mit der Frage, warum Mädchen und Frauen, die Traumatisierungen erlebt haben, so häufig mit psychischen Erkrankungen, insbesondere "Persönlichkeitsstörungen", diagnostiziert werden. In dem Buch verurteilt sie auch den ihrer Ansicht nach überbordenden Einsatz von Psychopharmaka in solchen Fällen und zeigt anhand von Beispielen von Betroffenen auf, wie Pathologisierung und psychiatrisches Labelling dazu führen können, dass Missbrauchsopfern z.B. nicht mehr geglaubt wird.


    Das sind alles ohne Zweifel wichtige Gedanken und Ideen, die Taylor in ihrem Buch zusammenträgt! Mein grundlegendes Problem mit dem Buch ist aber, dass Jessica Taylor darin nicht differenziert - das Buch ist eher ein Rundumschlug vor allem gegen "die Psychiatrie" und "Big Pharma". Das macht das Buch unwissenschaftlich und disqualifiziert Jessica Taylor in jedem ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Diskurs. Und das ist so, so bitter, weil sie sich selbst aufgrund ihrer radikalen Positionen ins Aus katapultiert hat und auch von anderen kritischen Psychiater*innen, Psycholog*innen und Therapeut*innen gemieden ist - was leider kein Wunder ist, wenn man wie Taylor so dermaßen übersimplifziert und übermäßig generalisiert.


    Schon allein Taylors in dem Buch genannte und zitierte Quellen sind nicht immer seriös und vertrauenswürdig. Sie beruft sich mehrmals auf Fachleute, die der extremen "Anti-Psychiatry"-Bubble angehören und die immer wieder durch provokative, mitunter faktisch völlig falsche, Wortmeldungen auffallen. Leute, die die Existenz von ADHS und mitunter sogar Autismus leugnen oder die für jegliche(!) Abschaffung psychiatrischer Medikamente sind, als "Expert*innen" anzuführen, die die eigene Meinung bestätigen können, ist halt schon - gewagt, gelinge gesagt.


    Aber auch Taylor selbst fällt insbesondere auf sozialen Netzwerken wie X, vormals Twitter, durch mitunter sehr fragwürdige Behauptungen auf, für die sie oft genug auch jegliche Quellen schuldig bleibt. In "Sexy But Psycho" selbst scheint sie wenigstens noch die - auch in seriösen Fachkreisen vertretene - Ansicht zu vertreten, undiagnostizierter Autismus bei Mädchen und Frauen sei problematisch und diese würden dann fälschlicherweise mit Persönlichkeitsstörungen etc. diagnostiziert, was leider den Tatsachen entspricht. Auf Social Media wiederum hat sie mitunter schon behauptet, Fachleute würden Mädchen und Frauen nun "einreden", diese hätten ADHs und/oder seien autistisch, was angesichts der Zahlen, die auf Underdiagnosis in bestimmten Gruppen wie eben Mädchen und Frauen und z.B. auch People of Color, hindeuten, schon hanebüchen ist. Witzig auch, dann Big Pharma als Grund hierfür zu nennen - das würde bei ADHS ja noch Sinn machen durch Medikation wie Stimulanzien, aber wer bitte würde an Autismusdiagnosen dann gut Geld verdienen? Es gibt ja nun keine Medikamente spezifisch "für Autismus"...


    Werden Traumata viel zu oft von Fachleuten nicht erkannt? Ja, und das ist eine Ansicht, mit der Taylor auch nicht alleine dasteht. Es braucht auch in Fachkreisen deutlich mehr wissen über Komplexe Posttraumatische Belastungsstörungen und "neurodivergent trauma" ist ein weiterer Bereich, der noch viel zu wenig erforscht und häufig missverstanden wird. Was mir bei JT aber so überhaupt nicht schmeckt, ist ihr Leugnen so ziemlich jeden psychiatrischen Krankheitsbildung mit der Behauptung, so gut wie alles sei "in Wahrheit Trauma". Es ist hinlänglich bekannt, dass "Borderline-Persönlichkeitsstörung" selbst in Fachkreisen (zu recht) oft als Mülleimerdiagnose betrachtet wird, überdiagnostiziert ist und mitunter zu extremen Stigma führt, und dass Menschen mit cPTBS und/oder Neurodivergenz mit BPD/EUPD fehldiagnostiziert werden. Auf die fehlende wissenschaftliche Validität weisen ja inzwischen selbst ernst zu nehmende Fachleute wie Tyrer, Mulder und Watts hin. Warum konzentriert JT sich also nicht auf tatsächlich problematische Diagnosen? Stattdessen leugnet sie die Realität von Bipolarer Störung, psychotischen Zuständen und Co. - das ist nicht nur naiv, sondern letztlich auch fahrlässig. Und es ist unethisch, dann einen Fall wie den von Valdo Calocane zu nutzen, um auf Social Media, wie JT es unlängst tat, gegen Unzurechnungsfähigkeit zu schießen mit der Behauptung, dies sei lediglich eine "Ausrede" für männliche Gewalttäter, um mit milderen Strafen (?!) davonzukommen. Taylor hat Calocane nie untersucht, sie ist zudem weder klinische Psychologin noch Psychiaterin - es fällt aber immer wieder auf, dass sie sich als äußerst erfahrene Fachperson darstellt, angeblich habe sie auch schon mit ganz vielen Menschen gearbeitet, die SMI waren/sind - daran kann man halt nur zweifeln, denn ansonsten würde Taylor das Konzept von SMI wohl kaum so vehement ablehnen.


    Last but not least gibt es mittlerweile mehrere Frauen, die den Darstellungen ihrer Geschichten in Taylors Buch widersprochen haben oder sogar meinten, sie seien vorab nicht darüber aufgeklärt worden, dass Taylor vorhatte, die Interviews in einem populärwissenschaftlichen Buch zu verwenden.


    "Sexy But Psycho" hat gute Grundideen und Taylor sicher nicht unrecht damit, wenn sie auch der Psychiatrie in unserem patriarchalen System die Pathologisierung weiblichen Verhaltens als "borderline", "emotional instabil", "hysterisch", "histrionisch" etc. vorwirft. Was sie aber daraus macht, ist ein Schnellschuss, der die Situation von Betroffenen nicht wirklich verbessert und ernst zu nehmenden Kritiker*innen am Status Quo sogar eher schadet durch eine sehr oberflächliche, einseitige, unwissenschaftliche Betrachtung.

  • Bernadine Evaristo – Mädchen, Frau etc.


    Die Widmung am Anfang dieses Buches beschreibt den Inhalt perfekt:

    "Für die Schwestern, Sisters & Sistas & Sistahs & Sistren & und die Frauen, Women & Womxn & Wimmin & Womyn & unsere Brüder, Brethren & Bredrin & Brothers & Bruvs & unsere Männer, Men & Mandem & die LGBTQI*-Mitglieder unserer Menschenfamilie."


    Eine großartige Geschichte, die sich über viele Jahre und Generationen verschiedenster schwarzer Familien in Großbritannien spannt und deren Wunsch, einen Platz in der Welt zu finden... Strukturell ist das Buch in 5 Kapitel aufgeteilt, beginnt mit dem Aufbau eines Theaterstücks und endet mit dessen Premiere. Jedes Kapitel behandelt 3 Frauen und deren Leben, am Ende kommen einige der Charaktere zur Theaterstückpremiere zusammen und man sieht hier, wer sich wie und von wo kennt und wie die Beziehungen über die Jahre verlaufen sind. Das Buch hat satte 555 Seiten und ist voll von allem was uns ausmacht. Ich persönlich fand den Teil über Megan/Morgan besonders interessant, da man hier die Reise einer später non-binären, gender-freien Person kennenlernt. Ebenso kann ich die fantastische Übersetzung dieses Buches nur loben.



    Ocean Vuong – On Earth We're Briefly Gorgeous


    Beschrieben als "Brief an seine Mutter, die nicht lesen kann" erzählt hier der Sohn, Little Dog, seinen Weg, seine Erfahrungen, seine Realität mit asiatisch-amerikanischer Abstammung in einem Amerika, das nicht das Land seiner Vorfahren und auch nicht ganz seines ist. Die Mutter ist gezeichnet von den Traumata ihres Landes, dem Krieg, der Gewalt, Dingen die sie aufgeben musste und den täglichen persönlichen Kämpfen gegen sich und ihren Sohn in einem neuen Land, das keine Rücksicht auf sie nimmt.


    Die Geschichte selbst besteht aus verschiedenen, zeitlich verstreuten Momenten, es ist kein linearer Brief in dem Sinne, eher eine ungeordnete Sammlung von Erinnerungen und Nacherzählungen. Das Buch kann sich nicht recht entscheiden, ob es Fiktion oder Autobiografie sein will, zudem gibt es richtig starke, sehr poetische Sätze, die mich sehr berührt haben. Kein einfaches Buch, aber ich finde ein wichtiges Buch, die Beobachtungen über den alltäglichen Rassismus, Machtverhältnisse, das Erbe der Eltern und die Auswirkungen auf die folgenden Generationen, die Suche nach der eigenen Identität in einem Land, das dir unnachgiebig vorgibt, wie du zu sein hast und wie andere dich sehen, ohne dich zu kennen, werden noch lange in mir nachhallen.

  • William Golding – Lord of the Flies / Herr der Fliegen


    Eine Gruppe britischer Jungen findet sich nach einem Flugzeugabsturz auf einer unbewohnten Insel wieder. Sie sind vom Alter und den Charakteren her sehr unterschiedlich und nach und nach nehmen sie Rollen an, weisen sich Attribute zu und versuchen eine Gemeinschaft zu erarbeiten, die nur vom Ozean begrenzt wird, ohne die Macht, Wissen und Aufsicht von Erwachsenen, Eltern oder der Gesellschaft.


    Ein interessanter Klassiker, beschrieben als "dunkle Parabel auf die verborgene Barbarei zivilisierter Gesellschaften", wirft er Fragen über uns und unsere Umwelt auf. Auf einer Insel, auf der es Essen und Wasser gibt, warmes Wetter und keine offensichtlichen Gefahren, ist diese Geschichte ein Sinnbild für den Zerfall von instabilen Strukturen, die ohne Fundament erschaffen wurden. Die Jungen teilen sich in klein und groß, in Vorsitzender, in Jäger, es werden Entscheidungen in Versammlungen getroffen, an die sich Niemand hält und auch die Muschel, die dem Träger Autorität verleiht, verliert alsbald jede Wirkung. Wahrhaftig wird hier aus Spaß bitterer Ernst.



    Stephen King – 11.22.63 / Der Anschlag


    Der 35-jährige Englischlehrer Jake Epping bekommt die Möglichkeit aus seinem Jahr 2011 in das Jahr 1958 zu reisen. Sein Kumpel Al hat ein Zeitreise-Portal entdeckt und durch seine vielen Besuche und längeren Aufenthalte ab dem Jahr 1958 eine Obsession entwickelt, die er nun auf Jake überträgt: den Mord an John F. Kennedy in 1963 zu verhindern. Jake ist fasziniert von der ganzen Sache, kommt das Zeitreisen doch mit einigen Regeln und Möglichkeiten daher, die ihn dazu treiben, zu versuchen was Al ihm aufgetragen hat.


    Ein fantastischer Roman, der das Amerika der 60er feiert, die Musik, die Tänze, das Leben, die Liebe, die Menschen, die Preise, das Bier, das Essen, die Autos. Aber auch ein Land des Rassismus, der Waffengewalt und politischem Fanatismus. Es gibt unzählige liebenswerte und unliebsame Charaktere, Jake's Reise und Leben in einem vergangenen Amerika ist unglaublich interessant und spannend und voller Hingabe für seinen Job als Lehrer und seine Schüler und später für eine junge Bibliothekarin an seiner Schule. Doch wie das Jahr 1963 näher rückt fängt sich Jake's Geschichte an zu wandeln und er beginnt den vermeintlichen alleinigen Schützen, Lee Harvey Oswald, der Kennedy erschossen haben soll zu oberservieren um das Attentat zu verhindern.


    Ich mochte das Buch sehr – vor allem die kleinen Meta-Bemerkungen und den großartig geschriebenen Charakter Jake Epping/George Amberson. Kein typischer King-Horror, aber typisch gute Charaktere und eine unterhaltsame Geschichte. Die Science Fiction beschränkt sich auf das Element des Portals an sich und am Ende die spärliche Erklärung, was es eigentlich ist und wie es funktioniert. Es gibt Body Horror hier und da und natürlich den Horror schwieriger Entscheidungen, denn die Vergangenheit verändert die Zukunft. Das Buch hat durchaus seine Längen, ich persönlich fand den Teil über Oswald selbst schwierig, die gewalttätige Ehe mit Marina und später seine Kontakte zu George de Mohrenschildt. Hier wird einem bewusst, wie Personen sich radikalisieren, wie Fanatismus entsteht und sich entwickelt, wie sehr das politische Amerika der 60er Jahre "Gefangener seiner Zeit" war. Das Ende war supertraurig aber dennoch charmant gelöst. Ich habe die englische Version mit 734 Seiten gelesen, es gibt sogar noch ein längeres Nachwort von King, in dem er herausstellt wie viel Recherche in dieses Buch geflossen ist und das er es schon 1972 hatte schreiben wollen. Das englische Hörbuch ist großartig, Sprecher Craig Wasson hat die Sprache und Akzente superb hinbekommen, gerade den russisch-amerikanischen de Mohrenschildt mit deutschem Akzent und den Charakter des gebeutelten Harry Dunning.

  • Hika Harada - 3000 Yen fürs Glück


    Ja, nu... Der eher sachliche Stil japanischer Belletristik gepaart mit ausufernden Erzählungen von Schulden und Sparmöglichkeiten machen nicht gerade ein spannendes Buch. Selbst als Asia-Hardcore-Leser war mir das letztlich doch zu dröge und inhaltslos.



    T. Kingfisher - What moves the dead


    Für nen Horrorroman musste ich definitiv zu oft lachen |) Aber ich hatte Spaß, die Idee ist natürlich nicht neu, aber gut umgesetzt, und Alex' (Galgen)Humor traf genau meinen Nerv. Es ist auch nicht zu gruselig und hat ein sehr angenehmes Pacing zwischen "Was zum Teufel ist hier los?" und "WAS ZUM TEUFEL IST HIER LOS???"

  • T. Kingfisher - What moves the dead


    Für nen Horrorroman musste ich definitiv zu oft lachen |) Aber ich hatte Spaß, die Idee ist natürlich nicht neu, aber gut umgesetzt, und Alex' (Galgen)Humor traf genau meinen Nerv. Es ist auch nicht zu gruselig und hat ein sehr angenehmes Pacing zwischen "Was zum Teufel ist hier los?" und "WAS ZUM TEUFEL IST HIER LOS???"

    Wenn du das mochtest nur als Tipp, in elf Tagen erscheint der nächste Band "What feasts at night".

  • T. Kingfisher - What moves the dead


    Für nen Horrorroman musste ich definitiv zu oft lachen |) Aber ich hatte Spaß, die Idee ist natürlich nicht neu, aber gut umgesetzt, und Alex' (Galgen)Humor traf genau meinen Nerv. Es ist auch nicht zu gruselig und hat ein sehr angenehmes Pacing zwischen "Was zum Teufel ist hier los?" und "WAS ZUM TEUFEL IST HIER LOS???"

    Wenn du das mochtest nur als Tipp, in elf Tagen erscheint der nächste Band "What feasts at night".

    Kommt auf die Einkaufsliste, sobald ich Thornhedge und The Twisted ones durch hab |) Kann man Thornhedge eigentlich irgendwo in der Challenge einsortieren?

  • Wenn du das mochtest nur als Tipp, in elf Tagen erscheint der nächste Band "What feasts at night".

    Kommt auf die Einkaufsliste, sobald ich Thornhedge und The Twisted ones durch hab |) Kann man Thornhedge eigentlich irgendwo in der Challenge einsortieren?

    21. würd ich sagen. Das ist doch eine Dornröschen-Nacherzählung.

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