Für die Leseratten - Der Bücherthread - Teil 2
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Alain Badiou - Versuch, die Jugend zu verderben
Ein schmales Bändchen eines eigentlich philosophischen Schwergewichts. Ein paar Jährchen hat es schon auf dem Buckel, kann aber dennoch als aktuelles Buch gelten. In dem sich ein alter Philosoph (und Mathematiker) an die (französische!) Jugend seiner Zeit wendet. Um sie zu verderben, wie es seinerzeit Sokrates vorgeworfen wurde.
Wäre das Bändchen einfach nur schlecht, hätte es mich nicht so unglaublich geärgert. Das ist es nicht. Badiou ist nach wie vor ein scharfsinniger Analytiker seiner Zeit und so ist in seiner Analyse des Dilemmas einer Jugend ohne Initiation und Abgrenzung, innerhalb eines kapitalistisch normierten Wertekontexts viel Interessantes und Lesenswertes zu finden.
Ärgerlich deshalb, weil Badiou eben nicht nur in der Schilderung der Vergangenheit den Weg für Identitätsbildung sieht, für Mann- bzw. Frauwerdung im Mythos des Ödipus in der Urhorde sieht (Urhorde der Söhne unter der Tyrannei des geilen Vaters, Vatermord und Initiation, Reinstutionalisierung des „Namen-des-Vaters“ über das Gesetz - Frauwerdung vermittelt über den Eintritt ins Gesetz, in dem sie einem Mann gegeben wird).
Sowohl bei seiner Analyse des Großwerdens in einer Gesellschaft, die nicht mehr Gesetz und Ideologie, sondern Kapital als Ideal vorgibt, in der das Frau-Sein nicht mehr über das Viereck „Heilige, Verführerin, Mutter,Liebende“ definiert wird, als auch bei seinem Ausblick in die Zukunft bleibt Badiou, rationalisiert über das Thema Mutterschaft, dem Dualismus von Mann und Frau verhaftet. Er ignoriert völlig alle Bereiche, in denen versucht wird, diesen Dualismus aufzuweichen, ihm zu entkommen oder mit ihm zu spielen. Ebenso die Anstrengung einzelner Gruppen, dem Glitzern der Warenwelt zu entkommen und ein Ethos des Verzichts zu begründen. Seine Wertung des tätowierten Jungen, des geschminkten frühreifen Mädchens, sind in ihrer Begründung interessant, aber leider auch verbohrt, klar einer anderen Zeit entspringend.
Am Ende des Buchs ist es ein unleugbar kluger alter Mann, aber eben doch ein alter Mann, der sich an die Jugend wendet. Wäre er dabei in seinem Duktus nicht so unglaublich überzeugt davon, ihr etwas ungemein Bedeutsames zu sagen, dann wäre das, was er schlussendlich zu sagen hatte, nicht so sehr enttäuschend gewesen.
Ich lese Badiou gerne, aber wohl doch eher seine früheren Werke. Den anders gelagerten kulturellen Kontext muss ich einkalkulieren, Frankreich stand vor 10 Jahren tatsächlich vor ganz anderen Jugendfragen als Deutschland,
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Max Porter – Grief is the Thing with Feathers / Trauer ist das Ding mit Federn
"Eine junge Frau ist gestorben. Ihre Kinder, zwei kleine Jungen, und ihr Mann sind noch betäubt vom Schock, haben haufenweise Beileidsbekundungen und Lasagne zum Aufwärmen entgegengenommen, die notwendigen Dinge organisiert, und nun setzt die unerträgliche Leere ein. Da klingelt es an der Tür. Totenschwarz und gefiedert bricht es herein, eine überlebensgroße Krähe packt den Vater und verkündet: "Ich gehe erst wieder, wenn du mich nicht mehr brauchst."
Eine Geschichte über Trauer und noch ganz viel mehr. Nicht-linear erzählt in drei Stimmen, dem Vater, den zwei Söhnen und der Krähe.
Die väterliche Perspektive gibt Einblick in das tiefe Gefühl des Verlustes und seinen Kampf mit der Verantwortung, seine Kinder allein aufzuziehen. Die Stimme der Söhne bietet einen rohen und ungefilterten Blick auf die Trauer aus der Sicht von Kindern. Die Abschnitte offenbaren Verwirrung, Schmerz und den Versuch, ihre Mutter in irgendeiner Form zurückzubekommen. Die Krähe ist sowohl eine wörtliche als auch eine metaphorische Figur, die für die chaotische und unberechenbare Natur der Trauer steht. Sie ist manchmal tröstlich, manchmal störend, aber immer tiefgründig und hilft dabei, sich mit dem individuellen Schmerz der Charaktere auseinanderzusetzen.
Die Phasen der Trauer werden in dem Buch nicht nach dem Elisabeth Kübler-Ross-Modell auf konventionelle, lineare Weise beschrieben und ist auch in keinster Weise ein Selbsthilfebuch. Stattdessen wird die Trauer in dem Roman als chaotischer, ungerichteter Prozess dargestellt, ist zutiefst persönlich und eine sich entwickelnde, vielschichtige Erfahrung, die für jeden Betroffenen einzigartig ist. Porters Art zu schreiben überwindet konventionelle Erzählformen, teils durch poetische Abschnitte, oft durch das Textlayout an sich. Stilistisch sicher nicht jedermanns Sache, aber eine Erfahrung wert mMn.
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Paul Tremblay – The Cabin at the End of the World / Das Haus am Ende der Welt
"Eine abgelegene Ferienhütte am See in den Wäldern New Hampshires: Hier wollen Eric und Andrew gemeinsam mit ihrer siebenjährigen Adoptivtochter Wen eine Woche Urlaub machen. Kein Smartphone, kein Internet - nur Ausspannen und Zeit mit der Familie verbringen. Mit der Idylle ist es dann aber schnell vorbei, als eines Tages vier merkwürdige, bis an die Zähne bewaffnete Gestalten auftauchen. Sie versprechen, die junge Familie nicht zu verletzen. Sie sagen, dass sie Hilfe brauchen. Doch die vier verbergen ein dunkles Geheimnis und für Eric, Andrew und Wen beginnt der schlimmste Albtraum ihres Lebens ..."
Jemand, der bei dieser psychologischen Horrorgeschichte sinnige Antworten auf alle Fragen und Ungereimtheiten will, ist hier definitiv falsch. Leser, die GERN alles hinterfragen und mit offenen Enden und Hinweisen ohne Auflösung klarkommen, kann das Buch durchaus was sein. Für mich war es am Ende dann doch zu viel "des Guten". Wie schon bei "The Pallbearers Club" wird die Frage echt oder unecht, wahr oder nicht wahr, hier noch etwas weiter getrieben.
Ich mochte den psychologischen Aspekt der "Home Invasion" schon sehr. Vier bewaffnete Leute, die in deine Hütte eindringen und dir versichern, dir nichts zu tun, aber gleichzeitig ganz schön fiese Waffen dabei haben... Die Themen des Buches sind komplex, die (mir zu schwach ausgearbeiteten) Charaktere können sie aber nicht recht tragen, und die Narrative bleibt immer etwas oberflächlich, gerade auch, weil es keine definitiven Hinweise und Erklärungen gibt. Es kann halt nur den Austausch zwischen den Charakteren geben und auch nur das was jeder glaubt oder meint zu glauben. Die Fragen, die das Buch nach Moral, Aufopferung, Glaube und Paranoia stellt und diskutiert, waren schon interessant aber hatten letztendlich zu wenig Bedeutung für eine kraftvolle Erzählung.
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Alice Miller – Das Drama des begabten Kindes (Sachbuch)
Da ich letztes Jahr "Am Anfang war Erziehung" schon so gut fand, wollte ich unbedingt wieder etwas von ihr lesen.
Das Drama des begabten Kindes ist ein kurzes aber tiefgründiges psychologisches Büchlein, das sich auf die Kindheit und die emotionale Entwicklung von Menschen konzentriert, die in ihrer Kindheit besondere Sensibilität und Anpassungsfähigkeit gezeigt haben. Das Werk fokussiert sich auf die psychologischen Mechanismen, durch die Kinder sich an die Erwartungen ihrer Eltern anpassen und die langfristigen Auswirkungen dessen auf ihre psychische Gesundheit und Identitätsentwicklung. Das Buch ist ein Plädoyer für eine einfühlsamere und kindzentrierte Erziehung und mehr Selbstreflexion im therapeutischen Kontext.
Behandelt werden die Themen
- Elterliche Erwartungen und Anpassung
- Verleugnung des wahren Selbst
- der verlorene Zugang zu den eigenen Gefühlen
- langfristige psychologische Auswirkungen
- die unbewusste Wiederholung von Mustern
- therapeutischer Prozess und der Weg zur Heilung
- Kritik an traditionellen Erziehungsmethoden
Ich mag die Thematik und finde sie extrem spannend. Gerade Miller finde ich super zugänglich und easy zu lesen, auch wenn der Inhalt ganz schön hart und niederschmetternd sein kann.
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M. W. Craven – The Puppet Show / Der Zögling (Washington Poe-Serie Band 1)
"Ein Serienmörder foltert seine Opfer in den uralten Steinkreisen der Grafschaft Cumbria und verbrennt sie bei lebendigem Leibe. Der Täter hinterlässt keinerlei Spuren - bis die scheinbar willkürlichen Foltermale des dritten Opfers bei einer genauen Untersuchung den Namen "Washington Poe" ergeben. Könnte Detective Poe das nächste Opfer sein?
Eilig wird der zurzeit suspendierte Detective zurück in den Dienst beordert und zusammen mit der brillanten, aber sozial inkompatiblen Analystin Tilly Bradshaw auf den Fall angesetzt. Als weitere Opfer und Hinweise entdeckt werden, die sich offenbar gezielt an Poe richten, stoßen die beiden Ermittler auf ein lange gehütetes Geheimnis, das den Morden zugrunde liegen könnte. Je näher Poe dem Täter kommt, desto größer wird der furchtbare Verdacht, dass er den Mann kennt, den die Presse "den Brandopferer" getauft hat ..."Temporeicher, komplexer und zuweilen echt finsterer, fieser Thriller. Tolle Atmosphäre durch die raue, unaufgeregte Gegend und eine Handvoll gut ausgearbeiteter Charaktere. Poe ist facettenreich und nachvollziehbar, nicht immer sympathisch in seinen Aktionen aber mit einem starken Sinn für Gerechtigkeit. Von Tilly hätte ich mir noch mehr gewünscht, ein toller spleeniger Charakter, die an Poe's Seite schnell reift und sich weiterentwickelt. Bei all den Twists und Turns und offenen Enden gab es zum Schluss einer sehr befriedigende Auflösung.
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Mladen Dolar - Vor dem Gericht der Gerüchte
Ein dünnes Bändchen, das es in sich hat. In Slovenien hat sich eine interessante kleine Nische der Philosophie entwickelt, deren Vertreter aus Psychoanalyse und Philosophie schöpfen, sich bekennend zu Lacan und Hegel. Bekannt, schon fast popkulturelles Phänomen geworden ist Slavoj Zizek. Weniger bekannt, aber sehr interessant sind Möaden Dolar und Alenka Zupančič.
Bisher gabs da nicht viel in deutscher Übersetzung. Aber da Slowenien letztes Jahr Gast auf der Buchmesse war, hat sich da ein wenig was getan und ich hab im Wahlfrust zugeschlagen. Der schmale Band von Mladen Dolar ist enthalten in einer im Rahmen der Buchmesse herausgebrachten Box mit Lesebändchen slowenischer Autoren, ist aber auch einzeln erhältlich.
In dem Essay liefert Dolar eine historisch angelegte kurze und pointierte Auseinandersetzung mit der perfiden Macht der Gerüchte und der Frage, inwieweit sie in unserer Sprache von Beginn an eingebettet sind. Zitiert aus dem Klappentext:
„Wie unbegründet sie auch sein mögen, Gerüchte hinterlassen immer einen Fleck und diesen Fleck kann man kaum noch entfernen. Dahinter verbirgt sich ein zynisches Kalkül: Man weiß, dass ein Gerücht nicht wahr ist und es keine Beweise gibt, aber man weiß auch, dass es haften bleiben wird, egal wie falsch es ist. Es gibt einen Moment des Vergnügens an der leicht erhaltenen Macht, der man dadurch zuteil wird - man kann Gerüchte in einer Quasigewissheit schwingen, dass sie ihr Ziel immer treffen, ohne dass wir uns die Hände dabei schmutzig machen müssen …“
Ich muss hier daran denken, wenn Jemand Anderen Worte in den Mund legt, die sie so nicht gesagt haben, um dann anzumerken, dass er darüber viel über Andere gelernt hat. Ja, so kann Sprache auch gebraucht werden. Warum das so ist, darüber kann man diesem Bändchen Einiges entnehmen.
Mit seinem locker geschriebenem Stil eignet sich das Bändchen wunderbar auch für Leser, die sonst nichts mit Philosophie am Hut haben. Von meiner Seite unbedingte Kaufempfehlung, auch wenns wenig Seiten für das Geld sind. Hier kommts wirklich nicht auf die Größe an .
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Meinst du mich damit?
Ich will das jetzt echt nicht vertiefen, aber es kommt mir so vor - und bevor ich jetzt was falsches annehme, frage ich einfach.
Die Diskussion gehört ja nicht hierher. Ich will nur sichergehen, dass ich nichts falsch verstehe.
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Hab jetzt nach mehreren Jahren noch mal "The Widow" von Fiona Barton gelesen. Joa - zeitweise ganz netter Krimi/Thriller, aber zeitweise zieht sich die Handlung auch eher zäh wie Kaugummi dahin. Das liegt vielleicht auch an den Erzählperspektiven - geschildert wird der Fall um das aus einem Garten verschwundene Kleinkind Bella einerseits aus 1.Person-Sicht von der Witwe des Hauptverdächtigen, aber dann wird auch immer wieder zu der Journalistin Kate und dem in dem Fall tätigen Detective gewechselt, wobei Barton hier aus 3.Person-Perspektive erzählt. Polizeiarbeit kann, fesselnd und kurzweilig geschildert, ja durchaus interessant sein, leider hat Barton dies aber hier nur im Ansatz geschafft. Manches wirkte auch nicht sonderlich schlüssig oder realistisch und hinterließ bei mir eher Fragezeichen im Kopf als sonstwas.
Zudem fehlte einfach das überraschende Element, die große Wende - gut, das muss selbst in einem Roman dieses Genres nun auch nicht unbedingt sein, aber zumindest braucht die Story an sich dann ebne eine gewisse Wucht. Die fehlte mir hier aber.
"The Widow" ist nun kein Reinfall, aber ich denke, Barton wollte hier vielleicht ein zu großes Feld abdecken - über die Arbeit der engagierten Journalistin ebenso schreiben wie über die Ermittlungen der Polizei als auch eine Art Psychogramm der Witwe, von der man ja lange nicht weiß, inwiefern das, was sie behauptet, der Wahrheit entspricht -, was zeitzuweise zulasten der Qualität der eigentlichen Handlung ging.
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Meinst du mich damit?
Ich will das jetzt echt nicht vertiefen, aber es kommt mir so vor - und bevor ich jetzt was falsches annehme, frage ich einfach.
Die Diskussion gehört ja nicht hierher. Ich will nur sichergehen, dass ich nichts falsch verstehe.
Ich meine die allgemeine Diskussionskultur immer dann, wenns hochkocht und persönlich stichelnd wird, weil das, um was es geht, nicht mehr auf der Sachebene angesiedelt ist.
Edit: ich hab jetzt mal geguckt. Dich ganz persönlich meine ich nicht. Aber ja, der Thread, auf den Deine Nachfrage vermutlich rekurriert, der ist so ein Kandidat dafür. Immer wieder, nicht nur aktuell. Ich kann nicht genau greifen, warum, dazu bin ich meist selbst zu involviert.
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Claire Kohda – Woman, Eating / Die Hungrige
Lydia ist 23 und hat jüngst ihre Mutter in einem Pflegeheim für Demenzkranke untergebracht. Es ist das erste Mal, dass Lydia versuchen wird ohne ihre Mutter zu leben, sich ihr eigenes Leben überhaupt erst aufzubauen. Sie reist nach London und bezieht ein kleines Künstlerstudio, denn sie wird zeitnah ein Praktikum in einer Galerie anfangen.
Lydia ist schon sehr lange 23 Jahre alt und wird auch nicht älter werden. Und seit sie denken kann, hat sie Hunger. Aber nun muss sie sich allein um ihr Essen kümmern. Und ihr fällt auf, dass es im heutigen London gar nicht so einfach ist, an frisches Schweineblut zukommen.
Eine unglaublich berührende Geschichte, über eine junge Frau, die versucht ihren Platz in einer Welt zu finden, die nicht für sie gemacht ist. Eine ruhige Erzählung, voll mit Ereignissen aber ohne Hast. Man wohnt Lydia nur einigen Wochen ihres Lebens bei, die für sie aber sehr intensiv und wegweisend sind. Die Beschreibungen über ihren Hunger, das Essen der Menschen, wenn Lydia sich auf Youtube Videos übers Essen und Kochen ansieht, sind grandios und zugleich todtraurig. Das Vampir-Motiv ist wunderbar neu interpretiert und die Erkundung der Fragen zu Identität, Herkunft, Isolation und Ethik gefühlvoll ohne dabei kitschig zu werden.
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