Echte Wölfe und blöde Fragen - Teil 2

  • Ich glaube, im Grundsatz sind wir uns da alle sowas von einig. Das skurrile Detail an dieser Diskussion ist nur gerade: Die Lüneburger Heide IST einer der wenigen Versuche, das zu ändern. Ganz praktisch und seit über hundert Jahren. Hier wird mit großem Aufwand ein Biotop erhalten ,das zwar menschengemacht und menschenabhängig, aber im Laufe von Jahrhunderten ökologisch einmalig und Heimat sehr bedrohter Lebensgemeinschaften geworden ist. Inklusive der Schnucken ,die hier organisch dazugehören. Und leider auch auf die Touristen angewiesen, ohne die das alles schlicht nicht finanzierbar und erhaltbar wäre. Such is life.


    Auch nur zu erwägen, alle diese kleinen Ökosysteme mit dem Argument "das ist dann eben Natur" einem völlig unbedrohten, in der Zahl explodierenden Großprädator buchstäblich zum Fraß vorzuwerfen, ist in diesem Fall ziemlich absurd, ein Widerspruch in sich - und meiner unmaßgeblichen Meinung nach das genaue Gegenteil von Naturschutz.

  • Ich schreibe eigentlich wirklich ungerne in diesen Thread und hoffe, ich werde es nicht bereuen. Ich habe aber vor nicht allzu langer Zeit einen spannenden Vortrag von einem der bewandertsten europäischen Ökologen mit Fokus auf große Beutegreifer hören dürfen, der da unter anderem auf eine Studie Bezug nahm, die hier im Thread-Kontext sicherlich relevant ist.


    In der Studie wurden Faktoren untersucht, die zu einer höheren oder neidrigen Anzahl von gerissenen Schafen durch Beutegreifer führen. Dabei wurde festgestellt, dass es sowohl Regionen mit sehr wenigen Beutegreifern, aber vielen Rissen, als auch Regionen mit sehr vielen Beutegreifern, aber wenigen Rissen gab. Die wichtigsten Faktoren bei der Reduzierung der Risse waren:

    • Zeit, in der der Beutegreifer präsent in einer Region ist
    • menschliches Bewachen der Herden
    • Herdenschutzhunde
    • Herdengröße
    • elektrische Zäune

    Es ist also verrückt, dass das sogar international wissenschaftlich anerkannt ist, aber trotzdem da so wenig gefördert wird... Aber gut, das ist wahrscheinlich das, was in der "Zeit, in der der Beutegreifer präsent in einer Region ist" passieren wird.


    Natürlich wurde dabei noch viel mehr gefunden, wollte das nur mal hier lassen, weil es vielleicht für einige interessant ist: https://www.sciencedirect.com/…cle/pii/S2351989421003486

  • einem völlig unbedrohten, in der Zahl explodierenden Großprädator

    Das ist ökologisch betrachtet keinesfalls so objektiv richtig. Die Populationen sind in Mitteleuropa nicht stabil, nur weil es einen Aufwärtstrend gibt.


    Edit: Und jetzt bin ich wieder raus, ich bereue es schon :lol:

  • Das ist etwas was ich mich auch immer wieder frage. Was ist eigentlich Natur? Ist das auch ein von Menschen angelegter, mit Wegen versehener und durch Holzeinschlag und Wiederaufforstung entstandener Wald? Ist eine von Menschenhand und von Weidetieren freigehaltene Wiese Natur? Beides gäbe es in der Natur gar nicht in der Form. Wieviel haben Nutz- und Haustiere überhaupt mit "Natur" zu tun?

  • Das ist eine hochinteressante Frage: Wenn ständig "die Natur" beschworen wird, welche soll das hier eigentlich sein? Die Kulturlandschaft von 1900, 1500 oder vor 8000 Jahren, als die Landwirtschaft begann? Und woher weiß man, wie die ursprünglich aussah und funktionierte?

    Zwischen Natur und Kulturlandschaft gibt es keine starren Grenzen, die Übergänge können sehr fliessend sein.

    Mein Grünland ist auch "Kulturlandschaft", dennoch bietet es durch die extensive Beweidung und reine Festmistdüngung und ein wenig Rücksicht und vor allem dem Zaun, Lebensraum für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten, die woanders keine Chance mehr hätten.


    "Die Natur" ist ein hochkomplexes System, ja, das sich in sehr unterschiedliche, an die vorherrschenden Bedingungen angepaßte Lebensraum-Varianten aufteilt.

    Natur ist immer einem gewissen Wandel unterworfen, das stimmt absolut. Genauso stimmt es, dass auch der Mensch Teil der Natur ist. Und dazu eine der wenigen Spezies, die über die Folgen ihres Handelns nachdenken können.


    An welchen Ausgangspunkt?

    Den braucht es nicht. :ka:

    Wir brauchen, um etwas in unserem Verhalten zu ändern und damit der Natur in Form von zurückkehrender Bioversität zu helfen, kein Bild im Kopf, wie was auszusehen hat, damit "alles wieder gut wird". Wir brauchen tatsächlich einfach nur ein "Weniger" von fast allen unserer bisherigen Verhaltensweisen.

    Das, was bei Zurücknahme - das bedeutet nicht den totalen Wegfall menschlicher Einflussnahme - des Menschen wieder an Möglichkeiten frei wird, wird sich "die Natur" so einrichten, wie es dort hinpasst.

  • Und, das ist doch der Hauptpunkt, "die Natur" gibt es hier nicht mehr. Außer in einigen Hochmooren. Alles andere, inklusive der Wälder, wird seit Jahrtausendenden bewirtschaftet. In einer so uralten Kulturlandschaft ist der Mensch längst ein entscheidender Mitspieler geworden, und ja: er muss gelegentlich auch "bereinigen", damit einige der menschenabhängigen Ökosysteme nicht kippen.


    Die Heide zum Beispiel. "Natur" wäre es, die wieder zu Ödland und Kiefernwald werden zu lassen wie vor tausend Jahren, aber das möchten ihre Bewohner und Besucher nun mal nicht. Mit vollem Recht, weil sie ein lebendes Kulturgut und ein europaweit einmaliges Bioptop ist.


    Das mit der "wilden Natur" ist romantisches Wunschdenken und funktioniert hierzulande einfach nicht - der Mensch war und ist ein Mitspieler und muß es im Fall der Wölfe auch ganz dringend wieder werden. Hier ist nun mal nicht Sibirien.

    Also weil es ein Kulturlandschaft ist, dürfen wilde Tiere da nicht rein?

    Wir Menschen müssen umdenken und es wird Veränderungen geben. Schmerzhafte. Das schreibe ich hier in diesen Thread seit Jahren. Jetzt sind wir mitten drin.


    Alles muss neu überdacht werden. Und wird ja auch. Die Zeiten der sorglosen Viehaltung sind vorbei. Jedes Pony, jedes Rind, Pferd, Schaf und Ziege ist potentiell gefährdet.


    Dass Menschen die Tiere, die sie leidenschaftlich gegen den Wolf schützen war schon immer so. Keine Ahnung, ob man vor 100 Jahren auch schon 1000de Schafe aus den Herden in der Lüneburger Heide zum Herbst geschlachtet hat.


    Für mich gehört das auch mit dazu, das zu überdenken.

    Mir ist völlig klar, dass ein Schäfer/in nicht mehr eine Familie mit 100 Schafen ernähren kann, dass die Wolle Sondermüll ist. Aber warum nicht mal die schlechten Entwicklungen in Frage stellen?

  • Das ist eine hochinteressante Frage: Wenn ständig "die Natur" beschworen wird, welche soll das hier eigentlich sein? Die Kulturlandschaft von 1900, 1500 oder vor 8000 Jahren, als die Landwirtschaft begann? Und woher weiß man, wie die ursprünglich aussah und funktionierte?


    Das ist doch ein fließender, ewiger Prozeß mit ständiger wechselseitiger Beeinflussung, und menschengemacht oder -beeinflußt bedeutet nicht per se "schlecht".

    Ganz einfach die „Natur“ von jetzt!

    Und nicht schon wieder töten, was nicht passt!

  • Es ist auf jeden Fall nur natürlich, dass auch der Wolf sich an die Gegebenheiten anpasst.


    Ich kann mir Schafe + HSH zum Beispiel nicht vorstellen, weil wir an ein Wohngebiet angrenzen. Also, vor allem wegen der Menschen. Da fehlt meiner Meinung nach noch viel Toleranz und Verständnis seitens der Bevölkerung + passende Gesetzgebung. In wie fern ich was Einzäunen darf ist auch ein Thema, weil Naturschutzgebiet. Dabei wäre für NSG ja grade toll, extensiv beweidet / per Hand gemäht zu werden und dass da nicht 2-3x pro Jahr riesige Mähmaschinen tätig sind..

  • Auch nur zu erwägen, alle diese kleinen Ökosysteme mit dem Argument "das ist dann eben Natur" einem völlig unbedrohten, in der Zahl explodierenden Großprädator buchstäblich zum Fraß vorzuwerfen, ist in diesem Fall ziemlich absurd, ein Widerspruch in sich - und meiner unmaßgeblichen Meinung nach das genaue Gegenteil von Naturschutz.

    Das wird nicht dem Wolf zum Frass vorgeworfen, sondern dem Tourismus, wenn Herdenschutz mit Hinweis auf den Tourismus als nicht machbar deklariert wird.

    Das ist ein ziemlich wichtiger Unterschied.


    Auch, wenn ich, weil ich selbst in einem Tourismus-Gebiet lebe, diese ganzen Tourismus-Auswüchse nicht sonderlich gutheisse, weiss ich doch, dass da viele Existenzen dran hängen und dass es deshalb wichtig ist, da machbare Kompromisse zu finden. Und ich bin sicher, dass das auch dort machbar wäre. Das ist nur nix von jetzt auf gleich, sondern vermutlich eher etwas, was Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird.

  • Ich kann mir Schafe + HSH zum Beispiel nicht vorstellen, weil wir an ein Wohngebiet angrenzen.

    Bei uns, also mitten in einer Großstadt, gibt es Schafe mit HSH. Das wirkt so recht friedlich und problemlos, habe aber noch nie mit dem Schäfer sprechen können.

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