Unsicherheit und Aggressivität bei Fremden

  • Hallo zusammen!


    Ich melde mich mal wieder wegen unserem Linos. Im Dezember ist er ein Jahr bei uns, nachdem er über eine Tierschutzorganisation aus Griechenland vermittelt wurde. Er ist nun ca. 14 Monate alt und während einige Baustellen schon besser werden - wie etwa sein permanenter Drang nach Aufmerksamkeit und sein forderndes, pöbelndes Verhalten - tun sich neue auf.


    Konkret hat Linos recht "plötzlich" eine Unsicherheit gegenüber Fremden entwickeln. Als wir ihn bekommen haben ist er noch zu allen freundlich hin, hat jeden begrüßt und wirkte nicht unsicher oder verschreckt. Nun ist es so, dass er Menschen, die ihn zu lange ansehen oder ansprechen anbellt und knurrt. Neulich, als wir abends unterwegs waren, haben wir eine Nachbarin getroffen und die kam recht nahe auf mich zu (also so, dass sie auch meine Individualdistanz unterschritten hat), da ist Linos gleich in die Leine gesprungen und hat richtig aggressiv gebellt. Ich denke, er hätte geschnappt, hätte er sie erwischt. Er hat auch schon Kellner angeknurrt, die im Gasthaus an den Tisch gekommen sind - da haben wir Erfolge erzielt, indem wir ihn jedes Mal mit Leckerchen vollstopfen, wenn sich jemand dem Tisch nähert.


    Wie gesagt kam das recht plötzlich und ohne uns bekannten Anlass. Wir haben gehört, dass seine Geschwister ähnlich ticken bzw. es bei einigen auch zu solchen Szenen kam - anknurren, anbellen, auch Besucher stellen oder nicht hineinlassen. Insofern denke ich, dass es entweder an einem Ereignis in Griechenland lag oder wohl eher an der Genetik.


    Linos sieht aus wie ein großer Jack Russell Terrier, hat aktuell 24kg und ist struppig. Seine Mama sieht ähnlich aus, etwas kleiner und wie eine rauhaarige Bracke. Irgendwo hat aber dann vielleicht doch ein HSH mitgemischt, das würde irgendwie sein Fremdeln erklären, oder?


    Was ich nun eigentlich fragen wollte: Hat jemand ähnliche Erfahrungen gemacht und mit Training Erfolge erzielt? Wir arbeiten bereits mit einer Hundetrainerin zusammen, aber ich frage mich einfach, ob das etwas ist, das wir aus ihm rauskriegen (oder zumindest soweit in den Griff kriegen, dass wir ihn bedenkenlos auch überall hin mitnehmen könnten - etwa ins Büro), oder ob er da auf ewig eine tickende Zeitbombe bleibt? Für Tipps bin ich natürlich ebenfalls sehr dankbar!


    Liebe Grüße

  • Hey, unser Jungspund hat auch mit einem halben Jahr ungefähr solche Anwandlungen gezeigt. Fremde waren plötzlich gruselig, vor allem, wenn sie ein bestimmtes Aussehen hatten, und wenn sie ihn locken oder anfassen wollten. Irgendwann war auch angucken doof. Besuch wurde verbellt und war große Aufregung, und ich hab tatsächlich auch eine gewisse Vehemenz wahrgenommen, hättenwir das laufen lassen.


    Ich hatte das noch bei keinem Hund, und stand erstmal im Wald. Was mir dann echt weitergeholfen hat, war das Buch "Betreten verboten". Zum einen wird erklärt, was bei territorial veranlagten Hunden (unserer war auch noch unsicher dazu) im Köpfchen so vergeht, und es werden Vorschläge gemacht, wie man managen kann.

    Es wurde auch beschrieben, dass manche Hunde halt so sind, dass Territorialverhalten genetisch festgelegt ist und man nur managen und trainieren kann, also in Bahnen lenken, aber es nie weggehen wird. Das hat sehr entlastet, weil wir auch an uns selbst das Zweifeln angefangen haben. Sicher haben auch äußere Ursachen oder seine Bauchspeicheldrüsenproblematik mit reingespielt, aber insgesamt habe ich mit Hilfe dieses Buches einen soliden Fahrplan erarbeitet, wie wir vorgehen, wenn Besuch kommt, damit sich niemand bedroht fühlt und der Hund ruhig bleibt, weil ich alles für ihn regle.


    Und letztens kam ich heim vom Gassi, war Besuch am Tisch gesessen, und als ich den Hund in den Flur ließ, wo ein Gitter ihn getrennt hat vom Besuch, da stand der Jungspund dann am Kindergitter und wedelte den Besuch zögerlich an :smiling_face_with_hearts:

    Passanten werden inzwischen ignoriert und manchmal schnüffelt er jetzt sogar vorsichtig an Fremden, mit denen ich spreche, was ich natürlich sehr lobe. Je mehr ich zeige, dass ich ihn abschirme in seinem Bedürfnis nach Abstand, umso entspannter ist er und umso mutiger kann er dann auch wieder auf Leute zugehen, wenn ihm danach ist.

    Ich nehme ihn auch weiter überall hin mit, ins Restaurant (und bitte den Kellner, Abstand zu halten), zum Camping (mit Zaun), zum Stall (Anweisung an alle, ihn zu ignorieren). Besuch ignoriert ihn ebenfalls, und er liegt dann neben mir auf seiner Decke (was wir antrainiert haben). Hat man mal einen Weg gefunden, kann man von dort aus sich vortasten (zb Besuch Leckerli werfen lassen oder sich auf den Boden setzen lassen etc).


    Apropos "tickende Zeitbombe", seh ich tatsächlich nicht so. Mein Hund braucht halt manchmal Hilfe in für ihn herausfordernden Situationen, und natürlich kennt er Maulkorb und Medical Training. TA oder Groomer ist nicht verhandelbar und macht er zb toll. Kinder ignoriert er, ich lobe für Blick und bestätige dann viel. Manches geht auch nicht, zb Jahrmarkt, Messe, Innenstadt, oder Fremde, die hier in Abwesenheit ins Haus kommen, zb Stromableser oder Gassigänger etc. Das machen wir dann auch nicht. Aber zb am Spielplatz sitzen und den Kindern mit gutem Abstand zugucken, während Leckerli runterfallen, geht dann wieder ganz gut :smiling_face:

  • Ich hatte das noch bei keinem Hund, und stand erstmal im Wald. Was mir dann echt weitergeholfen hat, war das Buch "Betreten verboten". Zum einen wird erklärt, was bei territorial veranlagten Hunden (unserer war auch noch unsicher dazu) im Köpfchen so vergeht, und es werden Vorschläge gemacht, wie man managen kann.

    Danke für deinen Beitrag, das baut sehr auf und motiviert. Dieses Buch hab ich tatsächlich schon bestellt und kam die Tage an - habe es nur noch nicht begonnen.


    Ich erwarte von ihm keinesfalls, dass er auf Messen und Jahrmärkte mitgeht (das wär auch für mich nur unentspannt), aber wenn zumindest alltägliche Dinge ohne Furcht klappen, ist das schon ideal. Insofern hast du mir wirklich Mut gemacht und wir werden das Buch gleich mal inhalieren haha.

  • Also erstmal die Frage: Hat er sich wirklich über fremde Menschen gefreut? Das tun erfahrungsgemäß die wenigsten Hunde. Die meisten fiddeln sich eher einen ab und die Menschen denken nur sie freuen sich.

    Es passiert eher nicht dass ein Hund immer freundlich Menschen gegenüber ist und dann ohne Vorfall das Gegenteil der Fall ist.

    Jetzt wird dein Hund erwachsen und hat eventuell eine Portion Schutztrieb. Wenn er die ganze Zeit gelernt hat dass ihm keiner hilft wenn Fremde was von ihm wollen dann versucht er eben das jetzt vehementer zu regeln.


    Mein Hund hat eine ähnliche Entwicklung wie euer. Als Junghund hat er gefiddelt wie sonst was und die Pflegestelle hat das als Freude interpretiert. Mit dem erwachsen werden ist er zunehmend nach vorne gegangen wenn uns Menschen zu nahe gekommen sind.

    Erstmal durfte ihn niemand mehr anfassen, auch Leute die er kannte nicht. Ausnahme war wenn er bei bekannte Menschen selbst Kontakt aufgenommen hat. Er musste lernen dass Fremde Menschen ihn einfach nichts angehen.

    Ich habe viel mit zeigen und benennen gearbeitet. Anfangs auch mit markern von Verhalten was nicht ausrasten war. Da muss man aber schauen schnell ein Alternativverhalten aufzubauen, denn sonst geht das nach hinten los und der Hund rastet erst recht aus (ist mir leider so passiert).


    Außerdem habe ich meinem Hund beigebracht auf Kommando hinter mir zu laufen. Das ist ein super Tool um in engeren Situationen dem Hund schon früh den Wind aus den Segeln genommen.


    Generell Ansprechbarkeit und Impulskontrolle ist eine super Sache.

    Zusätzlich habe ich ein "schau" auf Kommando und ein Abbruchsignal für Notsituationen.


    Bei uns war es ein langer steiniger Weg, aber wir hatten auch sehr viele Baustellen die dieses Verhalten zusätzlich befeuert haben. Heute ist er sehr gut kontrollierbar, aber man muss trotzdem immer mit den Gedanken beim Hund sein. Aber er dreht sich mittlerweile bei fast jeder Menschensichtung zu mir um und lässt mich das machen.

    Also es geht, man muss nur bei solchen Hunden meist sehr mit schwarz/weiß arbeiten.

  • Also erstmal die Frage: Hat er sich wirklich über fremde Menschen gefreut? Das tun erfahrungsgemäß die wenigsten Hunde. Die meisten fiddeln sich eher einen ab und die Menschen denken nur sie freuen sich.

    Es passiert eher nicht dass ein Hund immer freundlich Menschen gegenüber ist und dann ohne Vorfall das Gegenteil der Fall ist.

    Jetzt wird dein Hund erwachsen und hat eventuell eine Portion Schutztrieb. Wenn er die ganze Zeit gelernt hat dass ihm keiner hilft wenn Fremde was von ihm wollen dann versucht er eben das jetzt vehementer zu regeln.

    Hm, kann sein, dass wir das falsch interpretiert haben. Er ist eigentlich zu jedem direkt hin, hat gewedelt und prinzipiell freundlich gewirkt, da er sich streicheln lies und sich auch "rangeschmissen" hat. Aber gut möglich, dass das die ersten Symptome waren und er jetzt eben richtig nach vorne geht mit der Intention der Abwehr.


    Wir haben damals eigentlich versucht, ihn nicht zu Leuten hinzulassen, vor allem natürlich auf der Straße zu Fremden. Mag ja auch nicht jeder Hunde und ich wollte auch, dass er gar sich das gar nicht erst angewöhnt. Deshalb habe ich da auch mal die Leine kürzer genommen und ihn abgelenkt oder bin ausgewichen. Vielleicht hat er auch dadurch Fremde negativ verknüpft?


    "Schau" lernt er auch gerade bzw. sind wir dabei, das zu festigen. "Hinten" ebenso. Ich übe auch, dass er lernt, bei Begrüßungsformeln wie "Hallo" direkt zu mir zu schauen anstatt zum Gegenüber.


    Danke für deinen Erfahrungsbericht und deine Tipps!

  • Deshalb habe ich da auch mal die Leine kürzer genommen und ihn abgelenkt oder bin ausgewichen. Vielleicht hat er auch dadurch Fremde negativ verknüpft?

    Eher nicht. Dadurch lernt der Hund ja dass er seinen Freiraum bekommt den er benötigt um sich nicht bedrängt zu fühlen. Das würde ich jetzt auch erstmal weiterhin machen und schauen wo noch seine Wohlfühlzone ist. Er verknüpft eher dass Fremde blöd sind wenn diese ihm auf die Pelle rücken.

  • Ich habe einen Hund mit ordentlicher Portion Schutztrieb und Territorialität. Daran konnte definitiv gut gearbeitet werden, das Mindset ist aber der Genetik entsprechend geblieben.


    Empfehlen würde ich erstmal die Hintergründe des Verhaltens zu ermitteln. zB Inwiefern ist das Verhalten abhängig von dir als Mensch; wie sieht es aus ohne Mensch an der Leine; wie ohne Begrenzung (Leine); territoriale Aspekte usw.
    Dafür ist ein sehr guter Trainer, mit robusten Testpersonen/ Hunden nötig. Zudem sollte der Hund verlässlich einen gut sitzenden Maulkorb tragen können (viele Situation sind sonst schlicht nicht zu testen, da potentiell gefährlich für die Testpersonen).


    Erst wenn die Motivation des Verhaltens bekannt ist, kann vernünftig und erfolgsversprechend dran gearbeitet werden.

  • Manchmal hilft es, wenn man nicht zu viel analysiert, sondern dem Hund einfach mitteilt, was man nicht möchte und was man stattdessen von ihm erwartet. Heißt, übernimm du die Initiative und überlasse es nicht deinem Hund die Abwägungen und Entscheidungen für euch zu treffen.

  • Konkret hat Linos recht "plötzlich" eine Unsicherheit gegenüber Fremden entwickeln.

    Du schreibst von "Unsicherheit" und "Aggressivität".


    Für mich klingt das eher nach Schutztrieb, ggf. Territorialverhalten - auch das Alter deutet eher darauf hin, dass sich was in der Richtung tut als dass der Hund gerade eine klassische Spooky-Phase durchmacht. Dass die Geschwister gerade ähnlich ticken, ist auch ein Indiz in die Richtung.


    Ich würde ihn die nächsten Monate recht eng führen. Wie gut ist denn der Grundgehorsam? Zur eigenen Entspannung könntet ihr mal schauen, welche Alternativen ihr zu "Hund kommt überall mit hin" habt.


    Gibt es keine Alternative zum Büro, gäbe es dort bei mir ab sofort sehr klare Regeln. Und ich meine wirklich Regeln für den Hund, nicht für deine Kollegen. Ich würde im Büro (sofern er den nicht bereits hat) einen festen Platz zuweisen - und darauf achten, dass dieser Platz *nicht* dort ist, wo der Hund Eingänge, Türen, Küche etc. beobachten kann. Sondern ein nicht-strategischer Platz.

  • Manchmal hilft es, wenn man nicht zu viel analysiert, sondern dem Hund einfach mitteilt, was man nicht möchte und was man stattdessen von ihm erwartet. Heißt, übernimm du die Initiative und überlasse es nicht deinem Hund die Abwägungen und Entscheidungen für euch zu treffen.

    Sehe deinen Punkt. Aber wenn der Hund von der Halterin (noch) nicht richtig gelesen werden kann und somit ggf Unfälle passieren und/oder Verhaltensweisen unbewusst verstärkt werden, dann ist der richtige Zeitpunkt, sich das Verhalten von Außen begutachten zu lassen und für weitere Schritte an die Hand genommen zu werden.

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