Angemessenes Verhalten und Moral beim Hund - gibt es das, und was ist das?

  • Erst mal: Danke für deine ganze Mühe, das finde ich toll.


    Es zeigt aber auch, wie schwierig es ist herauszufinden, welche Kriterien berücksichtigt werden müssen, um sich tatsächlich ein Bild machen zu können was denn nun arttypisches Verhalten ist, und wie daraus eine "Angemessenheitsgrenze" festgelegt werden kann.


    So kannst du mit dem von dir beschriebenen Vorgehen zwar die Aggressivitätsintensität im Hier und Jetzt feststellen; Es gibt aber keine Möglichkeit, die Bedingungen dahingehend anzugleichen, dass alle Hunde auch die gleichen Ausgangsvoraussetzungen haben, z. B. hinsichtlich Aufzucht und Lernerfahrungen.

    Rassetypische Veranlagungen spielen beispielsweise auch ein große Rolle hinsichtlich der Reaktionsnorm eines Verhaltens.


    Hunde mit einer rassetypisch höheren Anlage zu aggressiven Verhaltensweisen haben eine andere Reaktionsnorm als Hunde einer Rasse, die eine grundsätzlich geringere Anlage zu aggressivem Verhalten haben.


    Verstehst du mein Problem mit deinen Grafiken?

  • Es gibt aber keine Möglichkeit, die Bedingungen dahingehend anzugleichen, dass alle Hunde auch die gleichen Ausgangsvoraussetzungen haben, z. B. hinsichtlich Aufzucht und Lernerfahrungen.

    Würdest Du denn dann unterschiedliche "Angemessenheitsgrenzen" festlegen je nach Aufzucht, Rasse, Lernerfahrungen,...?


    Verstehst du mein Problem mit deinen Grafiken?

    Meine Grafiken waren ja bewusst sehr vereinfacht gehalten, darum versteh ich auch jede Kritik daran. Sie können in meinen Augen dennoch eine Idee geben, nach welchen Kriterien man "Angemessenheitsgrenzen" festlegen kann, das war schon meine ganze Intention dabei.



    Mir fällt es nach wie vor schwer, überhaupt eine solche Grenze irgendwo generell festzulegen. Für mich ist es einfach stimmiger, das beobachtete Verhalten zu beschreiben, ohne es noch einer Wertung (angemessen/unangemessen) zu unterziehen.

  • Würdest Du denn dann unterschiedliche "Angemessenheitsgrenzen" festlegen je nach Aufzucht, Rasse, Lernerfahrungen,...?

    Nein, aus mehreren Gründen:


    Zum Einen bedarf es solcher unterschiedlicher Kriterien nicht, weil das arttypische Verhaltensrepertoire selber eine Grenze bei Konflikten vorgibt: Beschädigungsvermeidendes Drohverhalten und Konflikte mit Beschädigungsabsicht. Hier wurde in der Verhaltensbiologie festgestellt, dass taktile Verhaltensweisen ein Potential für Beschädigungsabsicht im Konflikt beinhalten.


    Dieses beschädigungsvermeidende Verhaltensrepertoire hat ein extrem breites Spektrum, und ist dabei äußerst fein und differenziert, was eine sehr ausgeprägte Kommunikation hinsichtlich friedlicher oder zumindest beschädigungsfreier Beilegung eines Konfliktes ermöglicht.


    Zum Anderen können Hunde - eben weil sie das genetische Erbe von Wölfen haben - auch sehr gut Gefahren einschätzen, bzw. haben die Fähigkeit und auch die Intelligenz, dies lernen zu können, und passen ihre Reaktion eben auch entsprechend an.


    Diese genetischen Aspekte dienen dem Erhalt der eigenen körperlichen Unversehrtheit.


    Dazu, und untrennbar damit verbunden, kommt noch die hohe soziale Komponente: Wölfe sind Rudeltiere, sie leben in einem sozialen Verband, mit sozialen Kontakten. Diese Verbände zeichnen sich aus durch hohe Rücksichtnahme, Fürsorglichkeit und sehr differenziertem Handeln, welches dem Status des jeweiligen Gegenübers angepasst ist: Ein rüpelhafter Jungswolf bekommt sicher mehr einen auf die Rübe, wenn er sich ungehörig verhält, als ein Welpe.

    Konflikte werden in den allermeisten Fällen unbeschadet gelöst, wobei es natürlich auch hier Ausnahmen gibt - aber diese sind eben nicht die Norm, sondern die Ausnahme, und Ausnahmen bestätigen, wie wir wissen, die Regel.


    Es wird also durchaus eingeschätzt, welche Motivation und welche Stärke - oder besser Schwäche, im Sinne von: "Wie überlegen bin ich meinem Gegenüber?" - der Kontrahent hat, und diese soziale Komponente sorgt grundsätzlich nicht für den Eigenschutz, sondern für den Schutz des Schwächeren.


    Welche Schlüsse ziehst du/zieht ihr denn aus diesen Grundlagen, die als Basis für eine Definition von "Angemessenheit im Verhalten" für unsere Haushunde gelten könnten?

  • Welche Schlüsse ziehst du/zieht ihr denn aus diesen Grundlagen, die als Basis für eine Definition von "Angemessenheit im Verhalten" für unsere Haushunde gelten könnten?

    Da kann ich jetzt natürlich nur von mir reden: ich halte diese von Dir beschriebenen Grundlagen im Wolfsverhalten für ungeeignet, um auch als Basis für eine Definition von "Angemessenheit" im Verhalten von Haushunden zu dienen. Das liegt vor allem daran, dass Hunde in aller Regel nicht über alle Mittel des Deeskalierens verfügen können: die Hundedichte ist viel größer, ihre Kommunikation ist eingeschränkt u.a. durch die Leine, sie können bei Konflikten nicht bei Bedarf abwandern und sich ein neues Territorium/Rudel suchen, sie haben bereits entsprechende Lernerfahrungen gemacht aufgrund dieser Lebensumstände, uvm.

    Schau ich mir umgekehrt an, wie Wölfe sich in Gefangenschaft verhalten, in der sie ebendieser Deeskalationsmethoden beraubt sind aufgrund der Enge, dann ist dort ebenfalls ein deutlich gesteigertes Stresslevel und Aggressionsverhalten zu beobachten im Vergleich zu freilebenden Wölfen.

    Darum komme ich für mich zu dem Schluss, dass ich "Angemessenheit" im Aggressionsverhalten zwischen freilebenden Wölfen und Haushunden nicht vergleichen kann, weil die Voraussetzungen zu verschieden sind.

  • Die soziale Struktur des Wolfes (also sowohl die speziellen Verhaltensweisen zum Arterhalt/Selbstschutz = hohe Ausrichtung auf eigene körperliche Unversehrtheit, als auch die soziale Lebensform in einem hochsozialen Verband = Rudel) hat sich in einem Zeitraum von ca. 10 Millionen Jahren entwickelt und gefestigt.

    Diese, durch die Evolution über Jahrmillionen entwickelten und genetisch festgelegten typischen Wolfsmerkmale, die das genetische Grundmaterial für Haushunde sind, können als nicht als Grundlage für das Verhaltensspektrum für Haushunde herangezogen werden?


    Das widerspricht sämtlichen Aussagen namhafter, auf Hundeverhalten spezialisierter Wissenschaftler, die sagen: "Wer den Hund verstehen will, muss sich mit dem Erbanlagen seiner Ahnen, den Wölfen auskennen."


    Du vergisst bei deinen Schlüssen Eines: Der Haushund ist kein Wildtier, er ist nicht von der Natur, über Jahrmillionen der Evolution gemacht.


    Der Haushund hat keinen natürlichen Lebensraum, sein Lebensraum ist die Menschenwelt, die er mit uns teilt.


    Die Domestikation hat dabei den Umstand der hohen Anpassungsfähigkeit an Umwelt- und Umfeldbedingungen genutzt, ein wölfisches Erbe, ohne welches die "Hundwerdung des Wolfes" gar nicht möglich gewesen wäre.


    Der Haushund ist ein Kunstprodukt des Menschen, welches auf den genetischen Erbanlagen des Wolfes basiert.

  • Die soziale Struktur des Wolfes (also sowohl die speziellen Verhaltensweisen zum Arterhalt/Selbstschutz = hohe Ausrichtung auf eigene körperliche Unversehrtheit, als auch die soziale Lebensform in einem hochsozialen Verband = Rudel) hat sich in einem Zeitraum von ca. 10 Millionen Jahren entwickelt und gefestigt.

    Diese, durch die Evolution über Jahrmillionen entwickelten und genetisch festgelegten typischen Wolfsmerkmale, die das genetische Grundmaterial für Haushunde sind, können als nicht als Grundlage für das Verhaltensspektrum für Haushunde herangezogen werden?

    Wir zwingen unseren Hunden aber eine deutlich andere Lebensweise auf, als bei wildlebenden Wölfen üblich.


    (Wie tassut auch schon beschreibt, stimmen die Beobachtungen der Freilandwölfe ja bereits bei Gehegewölfen nicht mehr)


    Als Beispiele:


    Das Rudel wird von uns Menschen zusammengestellt. Der Hund kann nicht einfach abwandern und ein neues Rudel gründen.


    Der Hund wird täglich gezwungen sein "Revier" mit vielen anderen Hunden zu teilen. Ihm wird oft täglich Kontakt zu fremden Hunden aufgezwungen.


    Die wölfischen Verhaltensweisen wurden durch den Menschen durch Zucht verstärkt, vermindert, modifiziert.


    Der Wolf hat ein einheitliches Erscheinungsbild, eine Deeskalation unter fremden Wölfen macht Sinn, da das Verletzungsrisiko auf beiden Seiten sehr groß ist.

    Ein Bernhardiner hat kein sonderliches Verletzungsrisiko, wenn er bei einem Chihuahua keine Streitvermeidungsstrategie anwendet.



    Von daher, hast du es ja selber geschrieben:

    Der Hund trägt durchaus genetische Erbanlagen des Wolfes. Diese kann man allerdings nicht mehr eins zu eins den Hunden überstülpen.


    Von daher bleibe ich dabei, dass es aus Hundesicht durchaus angemessen sein kann, wenn das Gegenüber (schwer) verletzt aus einem Konflikt geht.

    Von daher sollte der Mensch, welcher den Hund ja in unsere heute Lebenswelt zwingt, da auch moderierend eingreifen. Denn aus Menschensicht ist dieses Verhalten natürlich nicht erwünscht.

  • Wir zwingen unseren Hunden aber eine deutlich andere Lebensweise auf, als bei wildlebenden Wölfen üblich.

    Worauf beruht denn deine Annahme, wird würden ihnen eine Lebensweise aufzwingen?


    Hunde sind keine Wildtiere.

    Sie "erleben" keinen Mangel an Freiheiten, die ihnen bei einem "natürlichen Umfeld" zur Verfügung stehen würden, weil es dieses "natürliche Umfeld" für sie nicht gibt.

    Sie kennen nur die Lebensweise der Menschenwelt.


    Die Domestikation hat Haushunde sogar so weit verändert, dass sie die Gesellschaft von Menschen der Gesellschaft zu Gleichartigen vorziehen.


    Ich sehe da keinen Zwang.


    Nur die Verantwortung für dieses vom Menschen geschaffene Geschöpf, niemals zu vergessen, dass es auch arttypische Bedürfnisse hat, die nicht ständig von menschlichen Ansprüchen übersehen oder gar unterdrückt werden dürfen.

    Das Rudel wird von uns Menschen zusammengestellt. Der Hund kann nicht einfach abwandern und ein neues Rudel gründen.

    Zum Einen sind Haushunde keine Rudeltiere mehr.

    Es gibt keine verwandtschaftlichen Bande innerhalb seines Sozialgefüges, die eine natürliche Hierarchie vorbestimmen könnte.

    Statt dessen gibt es die Zutraulichkeit und Zugewandtheit zum Menschen.


    Der Hund wird täglich gezwungen sein "Revier" mit vielen anderen Hunden zu teilen. Ihm wird oft täglich Kontakt zu fremden Hunden aufgezwungen.

    Auch hier: Worauf baust du deine Annahme, er könnte die Existenz anderer Hunde in seinem außerhäusigen Umfeld als Zwang empfinden?

    Im Laufe der Domestikation ist es normal für Hunde geworden, in zumindest der außerhäusigen Umwelt auf andere Hunde zu treffen.


    Richtigerweise hast du "Revier" im Bezug auf Hunde in Anführungszeichen gesetzt - denn das Revier hat für Wölfe eine andere, nämlich existenzielle Bedeutung für ihr Überleben; Es kennzeichnet ein Ressourcengebiet, das im Bedarfsfall gegenüber Eindringlingen verteidigt wird.


    Dass Fremdhundekontakte "aufgezwungen" werden, und zwar vom Menschen, ist tatsächlich ein großes Problem, das streite ich nicht ab - bezieht sich aber ausschließlich auf die individuellen Bedürfnisse eines einzelnen Hundes, der sicher nicht mit jedem fremden Hund "zwangsspielen" will.

    Das ist aber nicht das Thema hier.

  • Ob man es als Zwang definiert oder nicht - die wichtige Aussage für mich ist, dass Hunde und Wölfe ein komplett unterschiedliches Leben führen.

    Deswegen tu ich mich auch schwer damit, wölfische Verhaltensweisen als Basis (und Wertemaßstab) zu nehmen.

  • Ob man es als Zwang definiert oder nicht - die wichtige Aussage für mich ist, dass Hunde und Wölfe ein komplett unterschiedliches Leben führen.

    Deswegen tu ich mich auch schwer damit, wölfische Verhaltensweisen als Basis (und Wertemaßstab) zu nehmen.

    Es geht bei Hunden um deren Fähigkeiten, insbesondere um die sozialen Fähigkeiten, denn genau diese ermöglichen Haushunden die Anpassung in eine Lebensweise, die sich gravierend vom Leben der in Freiheit lebenden Wölfe unterscheidet.


    Hohe Hundedichte, Einschränkungen in ihrem Flucht- und Wehrverhalten, Orientierung/Ausrichtung ihres Handelns an einem Lebewesen, welches nicht zu ihrer Spezies gehört, nämlich dem Menschen - all das sind doch die Umfeldbedingungen, an die Hunde sich anpassen müssen.


    Was sie dafür bekommen: Ein sicheres Zuhause, welches sie nicht mehr gegenüber Eindringlingen verteidigen müssen, weil ihnen das niemand wegnehmen kann. Versorgung der existenziellen Bedürfnisse durch den Menschen. Auch darum braucht der Hund sich nicht mehr kümmern.

    Welchen Grund sollte er denn haben, Abwandern zu wollen?


    All das können sie nur deshalb, weil sie die dafür nötige Basis von ihren Urahnen, den Wölfen, mitbekommen haben.


    Dazu gehört eben auch die Fähigkeit, Schwächere, Unterlegenere nicht unangemessen drastisch zu "bestrafen" - denn mit einem solchen Verhalten würde die soziale Gemeinschaft geschwächt.


    Genau diese Fähigkeit angemessenen Umgangs mit Schwächeren, Unterlegeneren besitzen auch Hunde.

    Wie ausgeprägt das beim individuellen Hund ist, kommt sowohl auf dessen genetische Veranlagung an (wenn durch menschliche Selektion z. B. Aggression, oder gar Artgenossenaggression gezielt verstärkt wurde) und auf die Lernerfahrungen (wenn ein Hund schon von Welpe an erfahren musste, dass er immer "Opfer" ist, z. B.).

    Von den "Überrollkugeln" - hier ganz klischeehaft die "Labratonne", nur um dem Ganzen mal ein Bild zu geben - ganz zu schweigen; Diese durften einfach nie lernen, ein Gespür für Schwäche, Zartheit im Körperbau oder eben auch Altersschwäche beim Gegenüber zu entwickeln.


    Wenn wir schon die genetische Basis nicht verstehen - wie sollen wir dann das Verhalten unserer Hunde verstehen lernen?

  • Dazu gehört eben auch die Fähigkeit, Schwächere, Unterlegenere nicht unangemessen drastisch zu "bestrafen" - denn mit einem solchen Verhalten würde die soziale Gemeinschaft geschwächt.

    Aber genau das trifft ja für fremde Hunde mit stark unausgeglichener Kraft nicht zu. Ein Bernhardiner, der einen fremden Kleinhund verletzt, schwächt seine soziale Gemeinschaft nicht. Und er gefährdet sich selbst auch nicht. Das Prinzip greift also einfach nicht bei (allen) Hunden.

    Wenn wir schon die genetische Basis nicht verstehen - wie sollen wir dann das Verhalten unserer Hunde verstehen lernen?

    Verstehen, klar. Aber man kann nicht daraus ableiten, dass Hunde = Wölfe sind (oder sein sollten) im sozialen Miteinander.

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