Tag 23 - Sorgen
Die ersten Kilometer sprechen eine deutliche Sprache : Heute erst einmal ein muntere auf und ab, entlang an Kuhweiden und Häusern, bei denen nur die bellend en, am Zaun entlang rennenden Hunde ein Anzeichen dafür sind, dass hier jemand lebt.
Ich lasse mir ein Hörbuch vorlesen, heute "Panikherz" von Benjamin von Stuckrad-Barre, schweife mit meinen Gedanken aber immer wieder ab. Warum spricht der Eurovelo Track bei Google Maps von ungefähr 550km bis nach Nantes und meiner auf den Endgeräten eher von 700-800km? Ich rechne und überlege und mache mir immer mehr Sorgen, obwohl es doch ziemlich dusslig ist, immerhin gibt es immer irgendeine Lösung.
Auch mein Rad, genauer gesagt die Gangschaltung, sorgt für Unmut. Schon seit Tagen gehen einige Gänge nicht mehr problemlos, schätze es liegt nicht an der Kette, sondern an den runtergerockten Ritzeln (oder wie auch immer die Zähne heißen, auf denen die Kette läuft), ausserdem verhakt sich auch gerne mal die Kette komplett natürlich Immer dann, wenn es mal wieder nach oben geht. Zum Glück lässt sich das aber durch schieben und an den Gängen rumschalten immer schnell wieder beheben, nervig ist es trotzdem.
Meine Recherche hat ergeben, in Palignes gibt es eine Einkaufsmöglichkeit und so vertreibe ich mir die Zeit inm ich mir ausmale, was ich alles kaufen könnte.
Natürlich kommt es wieder anders als gedacht, der Laden ist zwar noch da, wird aber nicht mehr bewirtschaftet und so gibt es nach 20 Kilometern auf und ab zwischen Kuhweiden lediglich ein kühles Getränk und Twixriegel vom ansässigen Tabakladen, kein wirkliches Highlight aber wenigstens ein paar Kalorien.
Weiter geht es in Richtung Paray-le-Monial und als ich bei einer Wegkreuzung ankomme und mein Weg mal wieder empfindlich nach oben, die Landstraße aber entlang eines Kanals ebenso dorthin führt entscheide ich mich für 5 Kilometer weniger und somit für die kaum befahrene Landstraße. Tatsächlich habe ich ein breites Grinsen im Gesicht als ich dem Gewässer folge und es wieder so ist, wie an den meisten bisherigen Tagen: Ebenerdig und immer wieder an "Mautstellen" des Gewässers vorbei.
In Paray-le-Monial bin ich gewillt Geld für Essen auszugeben (und nebenbei Strom zu schnorren), auch, weil der Lebensmittelladen Mittagspause macht und erst in 1,5 Stunden wieder öffnet. Dummerweise macht hier in wohl alles Mittagspause und ich brauche wirklich lange, um eine kleine Bar zu finden, in der ich wenigstens ein Käsebrot bekomme. Besser als nichts, Strom schnorren ist auch ok und so kann ich wenigstens die Zeit überbrücken, denn wenn sich schon einmal die Möglichkeit bietet um etwas einzukaufen, dann muss ich diese auch nutzen, keine Ahnung, ob sich diesbezüglich heute noch einmal etwas ergibt!
Nach einem kurzen Einkauf (Tütensuppe, Baguette, Obst, Joghurt, Kekse) geht es in der Sonne weiter entlang des Kanals, auf dem Teerboden sonnen sich kleine und größere Eidechsen welche hoffentlich schnell genug sind um dem Profil unserer vier Räder zu entkommen. Und dann, BÄÄÄÄMM, Schlange, mitten im Weg, direkt vor uns, ein Traumhaftes Motiv, wie ein Model liegt sie da. Also anhalten, Handy zücken und dem entgegenkommenden Einheimischen ein "Attention" entgegenrufen, hauptsächlich, damit er mir mein Bild der Tages nicht zerstört. Er fährt vorsichtig an ihr vorbei, hält an und ja, dass es keine Blindschleiche ist habe ich auch erkannt, aber als er "Viper" meint und ich seine Darstellung von dem, was passiert, wenn die einen beisst sehe wird mir doch ein wenig mulmig und ich schiebe Rad und Anhänger vorsichtig an ihr vorbei. Findet sie trotzdem nicht witzig, rollt sich erst ein und faucht mich an um dann im Gras zu verschwinden.
Will ja nichts sagen, aber die Schlangen, welche ich letztes Jahr in Rumänien zu Gesicht bekommen habe waren zwar wesentlich größer, aber eben auch schon tot.
In der Sonne, am Kanal entlang und auch noch mit Kalorien im Magen geht es gleich viel einfacher und schneller, eine nette Unterhaltung mit einem Paar vom Bodensee, welches mit einem Tandem unterwegs ist, bei dem allerdings die zweite Person vorne halb liegend fährt Wir tauschen uns über unterschiedliche Fahrradrouten in Europa aus, ich empfehle Ihnen den EV6 in Richtung Schwarzes Meer, sie mir die Route von Saint Nazaire entlang der Atlantikküste, nebenbei die Erklärung, warum dieses Rad und nicht einfach zwei Räder (sie eher unsportlich, er ehemaliger Ultraläufer und Triathlet).
Es geht weiter uns ich überlege, ob nach einem mühsamen Vormittag heute nicht vielleicht doch wieder 100 Kilometer drin wären, dann wäre ich nämlich endlich an der Loire, da ist auf der rechten Seite des Weges auf einmal ein interessantes Gebäude. Rad abgestellt, genauer angeschaut und mir ist klar, wenn ich hier heute ich übernachte, dann beiss ich mir die ganze Strecke über in den Hintern!
Grosses, grauer, zweistöckiger Bunker, vor dem lila Eingang ein lila Teppich, zwei riesen Bilder im sexy-anrüchigen Stil (Frau mit sündig roten Lippen, Maske und Peitsche) und ein noch größerer Spiegel an der Stirnseite des Gebäudes.
Ich habe auf meinen Touren wirklich schon überall geschlafen : Kuhweide, Pferdeweide, Stall, Bushaltestelle mitten im Grenzgebiet, Kapelle, Abbruchhaus, Neubau etc. aber noch nie vor einem Bordell! Nichts anderes kann das sein, Google Maps verrät mir sogar, dass das Teil "Club Alpha" heisst.
So beenden wir bereits um 18 Uhr den heutigen Tag, ich versuche noch zu recherchieren, woher die Differenz zwischen den Tracks kommt (der eine geht über Orleans, der andere nicht, trotzdem stimmt da irgendwas immer noch nicht), esse eine Kürbissuppe mit Croutons und genieße die untergehende Sonne.
Saint Vallier bis Höhe Gilly-sur-Loire, 73 Kilometer
Nachtrag : Unfassbar, gerade bemerkt, ich bin heute sogar schon über die Loire drüber gefahren, bin quasi an einem Nebenarm unterwegs!