Hallo liebe Dogforum Leute,
Ich schreibe hier mal rein und bin vor allem daran interessiert, von euch darin bereichert zu werden, die Überlegung der Abgabe und des Behaltens von allen Seiten zu beleuchten. Vielleicht hat ja auch jemand von Euch ähnliche Erfahrungen gemacht und kann diese teilen. Mir ist bewusst, dass so eine Entscheidung nur vor Ort getroffen werden kann. Mit meiner Trainerin werde ich auch demnächst über das Thema sprechen.
Im August 2019 habe ich eine 1 jährige Tierschutzhündin aus Bosnien übernommen. Sie ist als Welpe von der Straße in den bosnischen Tierschutz gekommen, war dann noch 3-4 Monate ca. in Deutschland in dem Tierheim eines Vereins, der Auslandshunde vermittelt. Dort hat sie immer im Rudel mit ihren Geschwistern gelebt (Zwinger mit täglich Auslauf im eingezäunten Gelände). Sie war also quasi "roh", als sie zu mir kam und hat in ihrem Leben außer anderen Hunden vermutlich wenig gesehen. Ich habe viel mit dem Verein gesprochen darüber, was für einen Hund ich suche bzw. mit was er in meinem Leben perspektivisch klarkommen muss. So kamen wir dann auf meine Hündin, da sie (aus meiner Sicht und der des Vereins) sehr menschenbezogen, freundlich und lernwillig ist und nicht ängstlich und schreckhaft aufgetreten ist. Das war aber in reizarmer Umgebung auf dem Dorf, wo sich eben das Tierheim befindet.
Ich muss sagen, ich habe die ganze Angelegenheit wahnsinnig unterschätzt hinsichtlich dessen, dass es für einen reizarm, nicht im Haus mit Menschen aufgewachsenen Hund eine wahnsinnige Herausforderung ist, mit mehreren Menschen beengt im Haus zusammenzuleben und dann ggf. noch in dieser Beengtheit mit Fremden (Besuch zB) klarkommen zu müssen. Ich lebe in einer Haus-WG (5 Personen) in einer Kleinstadt. Auch perspektivisch strebe ich eher alternative Wohnformen mit mehreren Menschen statt Single- oder Pärchenzuhause an.
Die Grunderziehung war und ist kein Problem. Sie hat ziemlich schnell die Grundkommandos gelernt, ich kann sie in bekanntem Gebiet guten Gewissens frei laufen lassen, weil sie dort immer toll ansprechbar ist. Allgemein ist sie leicht zu motivieren und sehr lernwillig. Und sie passt sich immer gut an, wenn im Haus zB Ruhe angesagt ist. Auch mit anderen Hunden hat sie keine Probleme. In solcherlei Hinsicht ist sie in meinen Augen ein ganz "normaler" oder sogar angenehmer Hund, der zwar in pubertären Anflügen mal seine Grenzen austestet, aber dies alles bewegt sich total im Rahmen und ist meines Erachtens ziemlich unproblematisch und gut händelbar.
Nun zu den Herausforderungen, die mich ehrlich gesagt seit Dezember echt belasten. Im Kern finde ich herausfordernd, dass es zwei größere Baustellen gibt, die es gerade in Kombination für mich schwierig machen, immer alles unter einen Hut zu bekommen. Sie hat eine große Unsicherheit ggü Menschen, die Indoor ungeregelt zu Verhalten führt, was für mich kaum tragbar ist in manchen Situationen (nach vorne gehen, Schnappen, Menschen laut anbellen) und von mir ein hohes Maß an Ruhe, Management und Training erfordert, um sie in SItuationen mit anderen Menschen mit hineinnehmen zu können.
Gleichzeitig ist Alleinbleiben noch ein großes Thema, bei dem es immer mal wieder Rückschläge gibt (insbesondere, wenn viel los ist im Haus oder jmd Besuch hat). Momentan verlasse ich das Haus höchstens für wenige Minuten und übe mit ihr, allein in meinem Zimmer zu bleiben, was je nach Kontext richtig gut (sie bleibt einfach liegen und schläft weiter) oder auch gar nicht funktioniert (sie bellt und heult dann, insbs, wenn viel los ist im Haus).
Nun noch etwas detaillierter zu den Herausforderungen:
Sie ist (auch nach Diagnose der Trainerin) ziemlich unsicher mit Menschen. Dies zeigt sich vor allem in geschlossenen Räumen und an belebten Orten. Ganz am Anfang zeigte sich ihre Unsicherheit darin, dass sie immer hinterherrannte und versuchte, in die Wade zu zwicken, wenn jmd aufstand und gegangen ist (hierzu gab es auch einen Thread im Forum). In Absprache mit Hundeschultrainern und dem vermittelnden Verein habe ich dann dafür gesorgt, dass sie dieses Verhalten nicht mehr ausführen kann, indem ich sie entweder an der Leine hatte oder auf ihren Platz geschickt habe, bevor jemand aufgestanden ist. Außerdem habe ich darauf geachtet, dass sie nicht in Konfrontation mit Besuch treten muss (dieser sollte sie zB erstmal ignorieren) und sie oft auch einfach herausgehalten. Mit der Zeit wurde sie dann entspannter mit solchen Situationen, so dass ich ihr nach und nach (erst mit meinen Mitbewohnern, später mit Besuch) wieder mehr Freiraum gegeben habe und sie kein unerwünschtes Verhalten mehr gezeigt hat. Ich schätze, dass ich in dieser Phase, in der aus meiner Sicht alles gut zu laufen schien, ihre immer noch vorhandene Unsicherheit sehr unterschätzt habe. In dieser Phase habe ich dann auch den ersten Termin bei meiner jetzigen Trainerin gehabt,bei dem sie mich auf die starke Unsicherheit der Hündin hingewiesen hat und mir geholfen hat, diese und ihr daraus resultierendes Verhalten (zB auch ständiges Nähesuchen zu Menschen/Kontrollieren, denen sie nicht traut) besser zu erkennen. Seitdem arbeite ich mit positiver Gegenkonditionierung und auch mit Alternativverhalten, wobei ich dies noch vor allem draußen anwende (zb wenn einem auf dem Bürgersteig Menschen entgegenkommen). Seit Ende November zeigte sie (teilweise vermutlich auch wegen der Scheinmutterschaft) nach und nach wieder heftigere Reaktionen auf menschliche Regungen im Haus. Das fing damit an, dass sie immer bellte, wenn jemand die Treppe Richtung Wohnzimmer runterkam, wenn sie sich im Wohnzimmer befand. Im Dezember schnappte sie dann zweimal nach einem Mitbewohner und scheint vor diesem mittlerweile richtig Angst zu haben, sie bellt ihn oft an, sobald sie ihn erblickt oder bellt auch, wenn sie hört, dass er nach Hause kommt. Auch mit fremden Menschen im Haus kommt sie mE schlechter zurecht. Nachdem hier jemand mehrtägigen Besuch hat (auch wenn sie mit diesem persönlich nicht oder nur wenig konfrontiert war), braucht es Tage, bis sie wieder so entspannt auf Geräusche im Haus reagiert wie vorher. Außerdem ist ihre Reizschwelle meines Erachtens (vielleicht durch Fehler
und Versäumnisse meinerseits) auch deutlich gesunken. Es passiert
schneller und häufiger, dass sie lautstark jmd anbellt und dann auch
nicht mehr ansprechbar ist. Vielleicht liegt das auch daran, dass sie mittlerweile ein bisschen mehr hier ankommt und ihre Unsicherheit einfacher zeigen kann. Dazusagen muss ich allerdings noch, dass meine Trainerin zur aktuellen
Situation noch einige Anregungen gegeben hat, die ich teilweise noch
nicht umgesetzt habe. Es wäre also falsch zu behaupten, dass Hopfen und
Malz verloren ist. Es gibt auf jeden Fall noch viel Potential, an der
Unsicherheit zu arbeiten auch im vorhandenen Kontext.
Es erfordert denke ich sehr viel Zeit und Energie, ihre Unsicherheit zu reduzieren. Ich denke optimalerweise müsste ich mich täglich mit ihr an der Leine ins Wohnzimmer setzen und einfach nur markern, wenn Menschen nach Hause kommen, herumlaufen, jmd klingelt, Besuch empfangen wird etc. Ehrlich gesagt bin ich aber oft selbst so angespannt in Anbetracht solcher Situationen, dass ich mich diesem Training nicht immer gewachsen fühle. Ich habe auch den Eindruck, dass sich meine Anspannung sehr auf sie überträgt.. Ein blöder Teufelskreis. So oder so ist dieses Training für mich ziemlich kräftezehrend. Es erfordert einfach ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und vor allem Gelassenheit. Ich bin da leider oft nicht so locker und unbekümmert, wie es vielleicht gut wäre. Leider sind unsere Gemeinschaftsräume auch sehr beengt, so dass es eigentlich keine "ruhige Ecke" gibt, aus der heraus man anfangen könnte etwas entspannter, mit mehr Abstand, zu arbeiten. Da ich in einer WG lebe, sind viele Situationen auch nicht planbar. Das heißt, wenn ich mit ihr im Wohnzimmer bin, kann es immer passieren, dass plötzlich Besuch oder einer der beiden Mitbewohner in der Tür steht, mit denen sie momentan noch sehr unsicher ist.
Da sie gleichzeitig- insbesondere wenn viel los ist- auch schlecht alleinbleiben kann, bleibt für mich momentan oft nur die Wahl zwischen Konfrontation mit der Situation oder eigener Isolation gemeinsam mit dem Hund. Das belastet mich momentan schon ziemlich, da ich mich zB von sozialen Aktivitäten zu Hause und außerhalb eher zurückziehe bzw. diesen deutlich seltener nachgehe als ich eigentlich gern wollte. Könnte ich sie zB easy allein lassen, dann könnte ich ihre Unsicherheit denke ich auch viel besser annehmen. Dann wäre halt klar, dass sie zum Rückzug in mein Zimmer kommt, wenn viel los ist im Haus oder ich mich mit einer Gruppe von Freunden/Bekannten treffen will. Ich finde auch eigentlich nicht, dass ein Hund mit jedem Trubel klarkommen und überall dabeisein muss. Nur ist halt so der Druck dahinter, dass alles irgendwie funktionieren muss, vor allem in Zukunft.