Dass Auslandshunde insgesamt nochmal eine andere Nummer sind, sehe ich ein. Aber welche schlechten bzw. traumatischen Erfahrungen sollte Mulan im Shelter gemacht haben, die sie sich grundsätzlich so anders verhalten lassen sollten als andere Hunde? Oder meint ihr, sie ist genetisch so völlig anders aufgestellt? (Ich meine die Frage ernst).
Ich hatte es hier ja schon zweimal geschrieben, dass so etwas, wenn auch seltener, mit einem Hund vom hiesigen Züchter passieren kann.
Ob Auslandshunde genetisch anders aufgestellt sind, dazu gibts mWn keine belastbaren Studien. Und die Forschung zu Epigenetik steckt noch sehr am Anfang. Aber von dem her, was man dazu weiß, kann man zumindest vermuten, dass Vorfahren teilweise überlebensbegünstigte Verhaltensweisen, die durch ihre Umgebung entstanden sind, an kurzfristig Nachfolgegenerationen vererben können, ohne dass eine lange Selektion dafür erforderlich ist. Also als direkte Antwort: Man weiß es nicht. Aber die Vermutung, dass umweltgeprägte Verhaltensweisen epigenetisch weiter gegeben werden, ist nicht unvernünftig.
Und andererseits muss man sich halt auch vergegenwärtigen, dass wir durch die Bank weg Hunde aus einer sehr vermenschlichenden Brille betrachten. Ist normal, Hunde erfüllen in unserer Gesellschaft größtenteils die Funktion als geliebte Sozialpartner, wir spiegeln uns und unsere Bedürfnisse in ihnen und sie spiegeln uns, das ist mit ein Grund für die Erfolgsgeschichte des canis familiaris. Und das prägt unsere Betrachtungsweise Läuft im Schnitt super. Und manchmal muss man eine andere Brille aufsetzen.
Hunde haben halt auch noch ganz andere - viel mehr - Anlagen als die zum geliebten Sozialpartner. Und deshalb besteht immer die Möglichkeit, dass ein individueller Hund sich anders verhält als die Hunde, die man bisher gekannt hat. Bei jedem Hund. Wenn man nun aber einen Hund neu hat, der aus völlig anderen Lebensumständen kommt als denen, in die er jetzt hineingesetzt wurde, sehr wahrscheinlich mit Vorfahren, die aus anderen Lebensumständen kommen, dann ist die Möglichkeit ungleich höher. Deshalb sollte man das nicht nur als vage Möglichkeit im Kopf haben, man sollte damit rechnen. Und seine individuelle Risikoabwägung entsprechend anpassen.
Bei Dir sind Vorannahmen drinnen, die man jetzt meiner Erfahrung nach auf Tierschutzhunde einfach nicht pauschal anwenden kann:
1. Junghund bleibt im Spiel mit anderem Junghund bei der Sache: Passt größtenteils. Gerade bei hiesigen Junghunden, die gut mit Geschwistern sozialisiert wurden, dann ggf. noch in Welpen- und Junghundegruppe und bei Begegnungen.
Bei einem Hund aus dem Shelter gabs natürlich auch Interaktion mit anderen Hunde. Aber die Chance ist hoch, dass die anders ausgesehen hat als unbefangenes Spiel in gesicherten Umständen. Also dass der Hund z. B. schon früh gelernt hat, beim Spiel auf der Hut zu bleiben, eine ins Spiel kommende Ressource ernsthaft zu ergattern, eine panische Flucht hinzulegen … Und das in Millisekunden, das kriegt man als Mensch nicht mit, wie schnell das umschlägt. Zumal die Körpersprache eines Hunds, der nicht so eng mit Menschen sozialisiert wurde, auch nicht so auf den Menschen ausgerichtet ist, wie es bei hiesigen Hunden der Fall ist.
Meine Lilly hatte z. B. immer schon eine sehr ausgeprägte Körpersprache, sie schreit schon fast . Aber sie hat auch erst lernen müssen, mir Signale so zu setzen, dass ich sie sicher verstehe. Den Änderungen konnte man förmlich zugucken. Obwohl ich an sich nicht unerfahren bin, was Körperrsprache von Hunden angeht.
2. Hunde mit Anschluss laufen nicht weg. Da bin ich ein bisschen ratlos. Hier haben viele Leute geschildert, dass diese Annahme einfach nicht stimmt. Glaubst Du das nicht? Ich kann Dir versichern: Ich hab es mehr als einmal erlebt. Auch Hunde, die sich sehr an ihre Besitzer angeschlossen haben, die das Leben hier genießen und toll finden, können im Fluchtmodus nicht mehr auf diese Erfahrungen zurückgreifen. Was auch immer genau da biologisch passiert: Die sind in dem Moment nicht in der Lage, die Stimme oder den Geruch ihrer Halter als vertraut und beruhigend wahrzunehmen. Genau zu checken und folgerichtig danach zu handeln, dass sie gerade nur 50 Meter von eigenen vertrauten Zufluchtsort sind und sich dorthin zurückziehen können.
Deshalb hat Lilly einen Tracker. Unsere Wohnung, ihre Höhle und ich sind für diesen Hund seine Welt, sein Anker und die Quelle alles Guten. Sie liebt es hier, hängt an uns und ist in den gut 8 Jahren, die wir sie haben, auch nie weggelaufen. Und trotzdem ist sie mit einem Tracker abgesichert. Und würde sie entlaufen, ich würde natürlich selbst suchen, aber trotzdem sofort einen professionellen Hundefänger engagieren. Weil ich mit der Möglichkeit rechne, dass sie mich im Fluchtmodus nicht erkennt. Und sich allen Menschen entzieht.