Ich habe den Eindruck, du wirfst da ein paar Sachen zusammen, die nicht oder nur sehr bedingt zusammengehören. Ich versuche mal, das alles ein bisschen aufzuschlüsseln.
Echte Bindung zeigen Hunde frühestens im Alter von etwa 14 Wochen. Hat ein Hund bis zu dieser Zeit keine Erfahrungen mit dem Menschen machen können, wird er ein Leben lang diesem gegenüber eher ein Meideverhalten zeigen und damit keine Bindung an ihn entwickeln können.
Was haltet ihr von der Aussage?
In dem Zitat geht es um die Sozialisierungsphase. Das ist zweifellos nicht falsch, was da steht, aber lässt doch ein paar wichtige Informationen außer Acht.
In der Sozialisierungsphase geht es primär darum, Sozialpartner als solche anzuerkennen und mit diesen zu kommunizieren.
Eine Studie von Freedman aus den 60ern zeigt, dass keinerlei menschlicher Kontakt innerhalb dieser Phase durchaus dazu führen kann, dass der Hund den Mensch niemals als Sozialpartner ansehen wird. Und da ohne Sozialpartner auch keine Bindung entstehen kann, geht dann natürlich auch jegliche Chance, zu diesem Hund eine Bindung aufzubauen, flöten. Soweit ist das Zitat also vollkommen korrekt.
Dazu muss man allerdings auch sagen, dass ein solcher Hund nicht nur keine Bindung aufbaut, sondern auch nicht mit dem Mensch kommuniziert. Also gar nicht. Null. Kommunikation findet nämlich nur mit Sozialpartnern statt.
Wichtig zu erwähnen finde ich außerdem, dass laut Scott & Fuller (auch 60er meine ich) bereits ein einmaliger Kontakt von 40 Minuten zu einem Mensch während der Sozialisierungsphase ausreicht, damit ein Hund den Mensch als Sozialpartner verstehen kann. Nur weniger Kontakt zu Menschen als ein Hund, der hier beim guten Züchter groß geworden ist, ist also noch lange kein Grund.
Bei Hunden, die aufgrund mangelnden menschlichen Kontakts in der Sozialisierungsphase tatsächlich keine Bindung aufbauen können, geht es also nicht um Hunde, die sich schwer damit tun, Vertrauen aufzubauen, oder die ein besonders geringes Interesse an der Zusammenarbeit mit dem Menschen haben, sondern um Hunde, deren Sozialverhalten tatsächlich schwer gestört ist. Vergleichbar wäre das wohl am ehesten noch mit der Reaktiven Bindungsstörung beim Mensch. So etwas ist in der Praxis (sowohl beim Mensch als auch beim Hund) aber doch wahnsinnig selten.
Die unsichere Bindung
Innerhalb dieser Bindungsform sieht der Hund seine Bezugsperson ebenfalls nicht als Gefahr. Seine Bezugsperson ist zwar vielleicht nett, aber aus Hundesicht naiv und unwissend, und sie ist keine Hilfe in brenzligen Situationen. Die Person dient sicherlich nicht als Vorbild. Der Hund lernt aus seiner Sicht für ihn sinnlose Handlungen. Obwohl der Hund Betreuung braucht, hat er oft das Gefühl, dass er seine Menschen betreuen muss. Der Mensch gibt ihm nicht ausreichend Sicherheit.
Da sind wir dann schon wieder in einem ganz anderen Bereich: Hier geht es um Bindungstheorie, verschiedene Bindungsstile und die Qualität von Bindungen. Dafür muss zumindest mal die grundlegende Fähigkeit, eine Bindung einzugehen, vorhanden sein. Mit einer echten Bindungsstörung (siehe z.B. RBS) hat das nichts zu tun.
Die Bindungstheorie bezieht sich ja ursprünglich auf die Auswirkungen von frühkindlichen Interaktionen mit den nächsten Bezugspersonen auf das spätere Bindungsverhalten. Üblicherweise wird hier also die frühe Interaktion zwischen Mutter/Vater und Kind unter die Lupe genommen. Übertragen auf den Hund sind wir hier also eher noch beim Thema Mutterhündin als beim frühen Kontakt mit dem Mensch.
Tatsächlich ist es so, dass eine Mutterhündin, die sich z.B. nicht kümmert, nicht anwesend ist oder bei Fehlverhalten des Welpen total überreagiert, einen erheblichen Einfluss auf das spätere Sozialverhalten haben kann und damit eventuell auch eine unsichere Bindung an den späteren Halter begünstigen kann.
Da als Mensch gegenzusteuern, kann tatsächlich herausfordernd sein, aber ist keineswegs unmöglich.
Es gibt z.B. Situationen, wenn ich mich im Bett umdrehe (sie schläft neben dem Bett) dann steht sie von ihrem Schlafplatz auf. Wenn ich zu erst rausgehe oder zu erst zur Einfahrt rausgehe um die Lage zu checken, stresst sie das.
Das hier (bzw. generell die Dinge, die du als mögliche Indikatoren für eine unsichere Bindung beschreibst) sind für mich so erstmal wenig aussagekräftig. Denn Fakt ist einfach: Hunde sind wahnsinnig vielfältig. Je nach Rasse und Hundetyp ist die Range an Normalverhalten so dermaßen unterschiedlich, dass man schlicht nicht von Verhalten x oder y auf eine gute oder schlechte Bindung schließen kann.
Denk z.B. mal an die ganzen Terrier, deren Job es ist, eigenständig Entscheidungen zu treffen. Würde so ein Hund, sobald er eine sichere Bindung an seinen Halter hat, keine eigenen Entscheidungen mehr treffen, wäre der schlicht unbrauchbar.
Oder die vielen Hüte-, Schäfer- und Wachhunde, die dafür gemacht sind, die Umwelt zu kontrollieren und abzuchecken und das, was ihnen wichtig ist, zu schützen. Wenn die bei einer sicheren Bindung zum Halter plötzlich nicht mehr kontrollieren und abchecken und schützen würden, hätten die Schäfer und Bauern ein echtes Problem.
Je nach Genetik, Umwelt und persönlichen Erfahrungen des Hundes kann eine sichere Bindung deshalb ganz unterschiedlich aussehen.
Ist das eher ein Zeitfaktor, oder gäbe es noch Hilfen womit man sie unterstützen kann?
Um aus einer unsicheren Bindung heraus eine sichere Bindung aufzubauen, hilft vor allem ganz viel Zeit. Zeit, in der du deine Geduld, Konstanz und Verlässlichkeit unter Beweis stellst, einen klaren Rahmen und eine Erwartungssicherheit für den Hund schaffst und somit Raum für Vertrauen aufbaust.
Wenn dein Hund grundsätzlich fähig ist, eine Bindung aufzubauen (und davon würde ich einfach mal ausgehen, weil wie gesagt, alles andere ist extrem selten), dann gestaltest du mit jeder Interaktion eure Bindung weiter. Vielleicht nur in Babysteps, aber es geht voran.
Zuletzt noch ein kleiner ungebetener Ratschlag, ich hoffe, du nimmst mir das nicht krumm:
Ich habe selbst einen Hund aus dem Tierschutz, der etwas... hm, ich nenne es mal "besonders" ist. Und ich war auch lange auf der Suche nach dem Grund für seine Andersartigkeit. Was hab ich gelesen und recherchiert und gemacht und getan... einfach, weil ich verstehen wollte, warum er so ist, wie er ist. Und wie ich ihm helfen kann.
Aber letztendlich bringt das alles nichts, denn du wirst bei einer solchen Vorgeschichte nie erfahren, was genau deinen Hund letztendlich so gemacht hat, wie er jetzt ist. Diese Suche nach Erklärungen wird in so einem Fall nie einen wirklichen Abschluss finden.
Versuch deshalb, die Vergangenheit hinter euch zu lassen. Wichtig ist, wo ihr jetzt steht und was (also welche Methode, welcher Umgang etc.) für euren Hund funktioniert. Sei kreativ, probiere aus, schau genau hin und beobachte, was klappt. Bei einem out-of-the-box-Hund kann es so nebenbei auch Sinn machen, mal out-of-the-box-Methoden zu erproben.