Ich lese hier schon seit gestern mit, mir gings aber nicht gut genug für längere Texte Ich zeig hier mal meinen bulgarischen „Da ist doch bestimmt ein HSH drin - Mix“ :
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Lilly, Shelterhündin mit generalisierten Ängsten und mild ausgeprägtem Deprivationsschaden. Das mit dem HSH haben wir auch gehört, als klar war, dass wir einen aus dem Osten stammenden Tierschutzhund übernommen haben, der nicht das hier erwünschte Verhalten zeigt (bewusst übrigens, wir kannten ihre Probleme, wir haben sie auch nicht als Direktimport übernommen, sondern von einem hiesigen Verein).
Ich habe Lilly vor Übernahme zwei Wochen fast täglich im Tierheim besucht und war mit ihr draußen. An der Leine hat sie nur panisch gerissen im blinden Fluchttunnel, auch schon zu Zeit im Tierheim. Stellenweise hat sie sich die Ballen dabei abgeschürft. Drinnen hat sie die erste Zeit nur neben der Tür gehockt, teils unter sich gemacht. Der Weg auf die Couch und neben mein Bett war schon ein Fortschritt nach mehreren Tagen. Gefressen hat sie nur, wenn sie sich unbeobachtet gefühlt hat. Auf mich ist sie nach ein paar Tagen erstmal zugegangen, bei meinem Mann waren es Monate (er ist aber auch so in Bewegungen und Lautstärke eher nicht filigran ). Obwohl hier eine sehr selbstbewusste Ersthündin war, an der sie sich orientieren konnte.
Der erste Schritt hier war, dass wir unsere Erwartungen an alles, was Hund ist, auf Null gesetzt haben. Die sind natürlich von Hunden geprägt, die hier aufgewachsen sind und sozialisiert wurden, auf Shelterhunde ist das teils nicht anwendbar. Jedenfalls nicht auf solche, die seit ihren ersten Wochen nichts als den Shelter kennen (das trifft beileibe nicht auf alle Hunde aus Osteuropa zu. Und es ist auch nicht Shelter=Shelter. Aber Lilly ist nach Auskunft noch deutlich vor ihrer achten Woche mit Schwester ohne Mutter aufgegriffen worden und in einem großen Shelter einfach „untergegangen“).
Wir hatten also einen Hund, der weder das Lebensverhältnis mit Menschen und den durch sie verursachten Sinneseindrücken auf engem Raum kannte, noch die mindeste Vorstellung von Zusammenarbeit mit Menschen hatte und außerdem nicht ganz auf die gleiche Art fähig zum Lernen war wie andere Hunde. Das war die Basis. Und genau auf dieser Basis mussten wir beginnen und schauen, was sich von dort aus erreichen lässt, ohne ein festes Ziel vor Augen. Kleines Schrittchen für kleines Schrittchen, mit Rückschritten. Und Fehlern natürlich
Unser Weg war erstmal eine komplett bedingungslose Erfüllung der Grundbedürfnisse. Futter nicht an Bedingungen geknüpft, sie durfte ruhen, wo sie wollte. Gassi draußen war nicht verhandelbar, aber wir hielten es kurz und auf vertrauten Wegen. Hund ohne großes Locken oder Zutexterei in Doppelsicherung eng einfach ruhig, freundlich und souverän rausgeführt. Ohne Druck ging das leider nicht. Mit der entsprechenden freundlichen „hier wird halt gerade leider gar nicht diskutiert-Haltung“ macht man es dem Hund leichter, sich da anzupassen, das ging auch recht schnell. Und wir haben darauf geachtet, es ihr so leicht wie möglich zu machen.
Für Unsauberkeit gabs weder Mecker noch genervte Reaktionen (mit Fehlern seitens Mann). Wir haben unser Leben nicht umgekrempelt, aber bemüht, alles etwas leiser und unaufgeregter zu gestalten. Abgesehen vom Gassi durfte sie völlig frei entscheiden, wo sie sich aufhält und ob sie Kontakt aufnimmt.
Als sich nach den ersten Tagen herauskristallisiert hat, dass sie sich im Dämmerlicht sicherer fühlt, haben wir etwas weitere Runden in diese Zeit verlegt. Mittlerweile hatte sie als ihren Platz zwei Plätze neben mir ausgewählt, die durfte sie nutzen. So ein „safe place“ ist gerade für ängstliche Hunde Gold wert. Man kann davon ausgehen, dass die ein riesiges Schlafdefizit haben. Als Lilly einigermaßen hier angekommen war, hat sie teils 22 Stunden am Tag geschlafen und ist heute noch einer der hingebungsvollsten „Schläfer“ die ich kenne
Der Platz auf der Couch war auch hier eine Zeit lang sehr gefragt, aber mittlerweile hat sie sich für zwei Plätze in meinem Büro/Schlafzimmer als Ruheplätze entschieden. Sie ist oft nicht bei uns, wenn wir im Wohnzimmer sind und das akzeptieren wir.
Die Entwicklung lief ganz grob gesagt über blanke Panik draußen und Angst und Unruhe drinnen über vorsichtige Sicherheit drinnen und erstes minimales Erkundungsverhalten draußen - ersten tieferen Schlaf und intensivere Kontaktaufnahme zu mir, Meidigkeit gegenüber meinem Mann drinnen und draußen lockerer werden, sobald das umbaute Gebiet verlassen wurde und keine „Störfaktoren“ (wie z. B. ein unerwartet auftauchender Schmetterling) da waren - erstes Betteln, verlässlichere Sauberkeit drinnen und ersten Spaß an Gassigängen draußen - tiefen Schlaf drinnen, Abnehmen der Meidigkeit gegenüber Mann (aber immer noch Stressreaktionen z. B. bei leichten Geräuschen) drinnen und ersten Ansätzen vom präsent Bleiben und nicht mehr nur panisch Ziehen im umbauten Gebiet draußen (noch ganz weit weg von Leinenführigkeit) …
Bis zu einem Hund heute, der immer noch keine fremden Menschen und Tiere braucht und bei einer zu hohen Frequenz von Schreckreizen immer noch heim will, aber gut leinenführig ist, nicht mehr in Paniktunnel verfällt, teils nach außen auch Ressourcen verteidigt, viel Spaß an langen Gassigängen in der Natur hat, 1A auf Rückruf hört, ein paar einfache Tricks kann, ganz selten auch mal Futter von anderen Menschen nimmt, drinnen viel schläft, aber auch verspielt ist, selten mal auch zum Schmusen kommt und gerne und ausgiebig (und charmant) bettelt. Abends wird mein Mann recht oft verbellt, wenn er ihr zu Nahe kommt, aber tagsüber und unterwegs hat sie auch viel Spaß mit ihm.
Sie wird nie alles „können“, was man von einem hier sozialisierten Hund erwartet. Es gibt auch einen „Sicherheitsbereich“ für sie, da entscheidet sie selbst, sie hat sich sehr an uns gebunden, aber was Scheues ist erhalten geblieben. Sie hat nicht die Kooperation mit Menschen gelernt, nur die mit uns und das wird vermutlich auch so bleiben. Ich finde sie perfekt und zauberhaft wie sie ist . Es passt aber einfach auch wahnsinnig gut in unsere Lebensverhältnisse.
Wir reden hier von Jahren der Entwicklung und es tut sich immer noch etwas. Hier eine Zustimmung zu den Vorschreibern: Gebt Eich viel mehr Zeit. Und habt nicht im Auge, was sie können soll, sondern geht von dem aus los, wer sie ist und was sie kann. Wenn es keine von außen auferzwungene „Deadline“ gibt, dann nehmt den Druck raus und beobachtet, was passiert. Sie wird Euch zeigen, wann Ihr wo einhaken könnt und wie.
Zum „Nebenkriegsschauplatz“ unterstützende Präparate: Wir hatten vom Tierheim aus Zylkene mitbekommen. Ich habe das eine zeitlang weiter gegeben, dann aber weggelassen, ohne merkbare Verhaltensänderung. Ich hab eigene Erfahrungen mit Ängsten. Die Arbeit übers Verhalten ist das, was letztlich wirkt. Wenn man nicht von wirklichen Anxiolytika redet, sondern von Mittelchen zu Unterstützung, dann wirken die eben - wenn überhaupt - allenfalls als kleiner Support zur Arbeit am Verhalten. Wenn ich aber schon dran bin und einen Hebel habe, am Verhalten zu arbeiten (und der Hund nicht massiv leidet), dann ist es mir lieber, ich tue das „nackt“. Weil ich dann nämlich ungefiltert sehe, ob wir mit der Arbeit auch Erfolge erziehen.
Hätte ich das Gefühl, dass der Hund massiv leidet oder erstmal einen Reset braucht, zur Ruhe kommen oder erstmal einen Ansatzpunkt haben muss, an dem man andocken kann, dann wäre ich beim Tierarzt, wenn auffindbar bei einem mit Spezialisierung, um ein richtiges Anxiolytikum verordnen zu lassen.
Was Du beschreibst, hört sich eigentlich schon sehr gut an, finde ich
Mut diesen nicht für unsere Lebensverhältnisse passend „vorkonfektionierten“ Lebewesen ist der Weg ggf. ein wenig anders, aber kann genauso spannend und beglückend sein, wenn man sich darauf einlässt Ich wünsche Euch ganz viel Spaß dabei.