So, weiter geht's.
Der Check beim Haustierarzt ergab erst mal nichts. Blutwerte schienen alle okay, keine Schmerzempfindlichkeiten im Bewegungsapparat festzustellen, Zähne schienen okay (Rico hatte erst zwei Monate zuvor eine Zahnsanierung gehabt)... Mein Haustierarzt setzte sich dann nachträglich noch mal hin, überlegte und recherchierte, was noch dahinterstecken könnte: Serotoninmangel, Toxoplasmose, eine seltene Erbkrankheit, deren Namen ich gerade vergessen habe, bei der das ZNS angegriffen wird... Alles getestet, alles negativ. Zum Schluss riet er mir zum MRT in der Tierklinik, weil er sich die Problematik eigentlich nur noch durch einen Hirntumor erklären konnte.
Parallel zu den Gesprächen mit dem Tierarzt kontaktierte ich einen Tierverhaltenstherapeuten. Der war allerdings ziemlich ausgebucht; gab mir aufgrund der Heftigkeit unseres Problems zwar einen Termin, allerdings erst ca. sechs Wochen später.
In der Zwischenzeit passierten weitere Vorfälle. Zuerst ging Rico auf die Hündin meiner Eltern los, mit der er aufgewachsen und sechs Jahre lang ein Herz und eine Seele gewesen war. Verletzungen konnten zum Glück verhindert werden, da er sich wohl durch strenges Einschreiten einschüchtern ließ, aber er muss wohl ziemlich massiv aufgetreten und ihr auch hinterhergegangen sein, als sie versuchte, die Flucht zu ergreifen. Ein paar Tage später griff er dann meine Mama an. Auch hier ohne Verletzungen durch entschiedenes Eingreifen einer dritten Person. Aber dennoch... Es wurde immer fürchterlicher. Mein Hund griff scheinbar unberechenbar Bezugspersonen an und keiner konnte sich den Grund erklären. Alle hatten Angst vor Rico. Ich entschied, dass bis auf Weiteres außer mir niemand mehr mit ihm Umgang haben sollte, weil ich das nicht verantworten konnte. Zu mir nach Hause holen ging wegen meines Freundes aber ja auch nicht... Also bekam Rico im Haus meiner Eltern ein Zimmer zugewiesen, wo er bleiben musste, und ich fuhr so oft und so lange ich konnte hin, um ihm Gesellschaft zu leisten und mich um ihn zu kümmern. Für jeden Spaziergang, für jedes Pipi und immer, wenn er in seinem Zimmer weinte oder bellte... Zehn Kilometer einfache Strecke. Es war der Horror.
Zusätzlich entwickelte er draußen Panikattacken aufgrund von winzigen (z. B. das leise Brummen eines Flugzeugs am Himmel) oder sogar für mich gar nicht wahrnehmbaren Auslösern. Bald hatte ich das Gefühl, mit ihm nicht einmal mehr spazieren gehen zu können. Er tat mir so leid, aber ich war auch so hilflos und hatte solche Angst.
Ein paar Tage später war der MRT-Termin. Gehirn und Rückenmark wurden komplett gescant - ohne Befund. Man bot mir an, den Hund einzuschläfern, denn er sei ja wohl richtig gefährlich und irgendetwas stimme ja gesundheitlich definitiv nicht, auch wenn es nicht diagnostizierbar sei. Aber ich war noch nicht bereit, diesen Schritt ohne Diagnose zu gehen.
So weitergehen konnte es allerdings auch nicht. Deshalb meldete ich mich nochmals bei dem Tierverhaltenstherapeuten und fragte vorsichtig nach einem früheren Termin, da die Situation für uns und Rico nicht mehr tragbar sei. Tatsächlich rief er mich direkt am selben Tag zurück und nahm sich zwei Stunden Zeit. Neben einigen Erste-Hilfe-Tipps äußerte er die Vermutung entweder einer Zahn- oder einer Schilddrüsenproblematik. Daher verwies er mich an eine Tierärztin für Verhaltenstherapie, die zwar weit von mir entfernt ist, aber telefonische Beratung anbietet. Auch dort bekam ich zum Glück schnell einen Termin. Sie fragte auch im Wesentlichen nach den Zähnen und nach der Schilddrüse. Mein Haustierarzt hatte im Blutbild nur den T4 erfasst, der lag bei 2. Die Verhaltenstierärztin meinte, das sei zwar in der Norm, aber sie kenne diverse Hunde, die mit einem solchen Wert durchaus ernste Probleme hätten. Sie bräuchte aber ein komplettes Schilddrüsenprofil, um das wirklich zu beurteilen. Außerdem Röntgenbilder des Kiefers und einen Test auf Mittelmeerkrankheiten.
Mein Haustierarzt war zum Glück bereit, das alles zu machen. Und tatsächlich: Auf den Röntgenbildern zeigten sich zwei gebrochene Zahnwurzeln! Das erwischte mich komplett kalt, denn zum einen hatte ich keinen Schimmer, wie/wann Rico sich diese Verletzung zugezogen haben könnte, und zum anderen hatte er nie Anzeichen für Zahnschmerzen (schlecht fressen, Kauartikel verschmähen o. Ä.) gezeigt. Natürlich wurden die betroffenen Zähne noch in derselben Narkose entfernt.
Weniger angetan war ich zwei Tage später von dem "Schilddrüsenprofil", denn es waren nur drei Werte bestimmt worden. Ich konnte zu dem Zeitpunkt mit den Werten noch nicht so viel anfangen, aber der T4 lag nun nur noch bei 1,7.
Der Verhaltenstierärztin reichten diese drei Werte erwartungsgemäß nicht, also noch eine Blutentnahme, diesmal wirklich für das große Schilddrüsenprofil. T4 inzwischen nur noch bei 1,2. Es wurde eine Schilddrüsenunterfunktion, vermutlich autoimmun, diagnostiziert.
Ich ging auf dem Zahnfleisch, aber wenigstens hatten wir eine Diagnose. Mein Haustierarzt war zum Glück bereit, mir Forthyron zu verkaufen, auch wenn er mir offen sagte, dass er an die Sache mit der SDU nicht glaube. Aggression sei kein typisches Symptom dafür. Aber er tue alles, was mir Hoffnung mache, Rico das Leben zu retten.
Die Einstellung der Schilddrüsenhormone war zäh und zog sich über ein Jahr hin. Meist zeigte sich nach Dosiserhöhung für ca. zwei Monate eine spürbare Besserung in Ricos Verhalten, dann ging es wieder bergab. Parallel zu der Medikation machten wir eine Verhaltenstherapie. Es war zäh, aber es ging bergauf. Nach einigen Wochen konnten meine Eltern wieder die grundlegende Versorgung übernehmen, sodass ich nicht mehr x-mal am Tag herkommen musste. Irgendwann konnten wir vorsichtig versuchen, die Hunde wieder miteinander zu vergesellschaften, zuerst auf Leinenspaziergängen, dann im Garten, dann im Haus. Die Hündin meiner Eltern war lange Zeit sehr misstrauisch und leider gab es auch immer wieder mal den einen oder anderen Rückschritt (zum Glück aber immer ohne Verletzungen).
Am langwierigsten war es erwartbarerweise mit meinem Freund (der mich trotz dieser Umstände zwischenzeitlich heiratete ). Da saßen die seelischen Wunden auf beiden Seiten ganz offensichtlich am tiefsten und auch da gab es immer wieder Rückschritte, wenn Rico wieder mal einen "Schilddrüsen-Schub" hatte. Aaaber langsam, mit vielen Tiefschlägen zwischendurch, die aber immer "milder" wurden, arbeiteten wir uns bergauf. Zuerst gingen wir mit Abstand spazieren, dann zunehmend enger zusammen. Irgendwann konnte mein Mann mit Rico bekannte Tricks abrufen. Erst "Distanztricks", später sogar solche wie den Handtouch. Schwierig war es lange Zeit in Situationen, in denen Rico "einfach da sein" sollte. Also z. B. wir trinken Kaffee und er hatte keine klaren Anweisungen, was er tun soll. Hier hatte ich dann die Aufgabe, mit ihm zwar Handlungsoptionen zu shapen, aber eben keine klaren Kommandos zu geben, weil ja das Ziel sein sollte, dass Rico nicht dauerhaft konkrete Anweisungen braucht, sondern auch selbst entscheiden kann, was er jetzt Sinnvolles tun könnte. Es dauerte, aber es funktionierte. Inzwischen können wir sowohl im Garten als auch im Haus zusammensitzen und Rico ist entspannt. Und - *Trommelwirbel* - seit einiger Zeit kommt Rico sogar von sich aus zu meinem Mann und lässt sich von ihm streicheln!
Es war ein unfassbar langer Weg, an dessen Ende wir auch immer noch nicht angelangt sind. Aber Stand jetzt ist Rico seit einem Dreivierteljahr mit seiner Forthyron-Dosis stabil und ist in den meisten Situationen wieder ganz der Alte. Leider nicht zu 100%... mit der Hündin meiner Eltern gerät er weiterhin manchmal aneinander, vor allem, wenn es um Futter geht. Eine Ressourcenaggression hatte er früher höchstens gegenüber Fremdhunden. Aber immerhin kann man das recht gut managen. Und obwohl er sich so gut macht, ist das Vertrauen in ihn einfach nicht mehr in dem Maße vorhanden wie früher, denn die ganze Geschichte hat uns auch ein Stück weit traumatisiert. Aber Rico kann wieder weitestgehend wie ein ganz normaler Hund am Familienleben teilnehmen, wir machen inzwischen wieder Agi-Gruppentraining und haben trotz aller weiterhin gebotener Vorsicht wieder Spaß an und mit ihm. Ich bin unserem Verhaltenstherapeuten und der Tierärztin so wahnsinnig dankbar, dass sie uns auf diesem Weg begleitet und Rico dadurch das Leben gerettet haben. Eine ganze Zeitlang hätte niemand in meiner Familie für möglich gehalten, dass wir das schaffen können.
Tja, also meine Erfahrungen mit Kooikern... Ich liebe diese Hunde. Nach wie vor. Aber einfach war Rico schon vor seiner Krankheitsgeschichte nicht, und wenn ich lese, was für Probleme viele Besitzer mit ihren Kooikern haben, ohne dass diese eine (diagnostizierte) Erkrankung haben, denke ich, dass sich in der Zucht und vor allem auch in der Kommunikation der Züchter einiges ändern muss. Aus meiner Sicht sind Kooiker keine unkomplizierten Überall-dabei-Familienhunde - als solche werden sie aber leider immer wieder verkauft. Das finde ich hochproblematisch und würde mir da mehr Offenheit und Problembewusstsein wünschen.
So, Ende des Romans.
Danke, falls ihr bis zum Ende durchgehalten habt.
Liebe Grüße
Amica