Beiträge von Estandia

    Am Ende gibt es einen "Twist", den man leicht übersehen kann.

    Welchen meinst du? Sind bei mir jetzt zwei Jahre her, dass ich das gelesen habe, und kann mich ad hoc an keinen Twist erinnern |)

    Kazuo Ishiguro – A Pale View of Hills / dt. Damals in Nagasaki


    "Nagasaki, Anfang der Fünfzigerjahre: Die Zerstörungen des Krieges sind der Stadt immer noch anzusehen, doch zwischen den Ruinen entstehen bereits neue, moderne Hochhäuser. In einem von diesen lebt Etsuko, zusammen mit ihrem Mann Jiro. Während dieser verbittert versucht Karriere zu machen, kümmert sich Etsuko um den Haushalt. Unterhaltung hat sie wenig, oft steht sie am Fenster und beobachtet, wie sich die Welt um sie herum verändert. Eines Tages zieht eine Frau in die Holzhütte unten am Fluss ein, zusammen mit ihrer kleinen Tochter. Etsuko freundet sich mit den beiden an und muss bald feststellen, wie ihre Nachbarin über ihrem Traum vom Glück mit einem amerikanischen Soldaten mehr und mehr ihr Kind vergisst."


    Ishiguro's Debut-Roman und in jeder Weise legt dieses kurze Buch den Ton und die Art der folgenden Bücher fest. Die Geschichte, was eigentlich nur Erinnerungsbrocken von Etsuko sind, derer sie sich nicht immer ganz sicher ist, ob sie auch genau so passiert sind, wird dual erzählt. Etsuko, die im "Jetzt" gerade ein paar Tage mit ihrer jüngeren Tochter verbringt und dann das "Damals", kurz nach der Bombe in Nagasaki, als die Menschen versuchten in eine neue Realität zu finden. Eine ruhige Erzählung, Etsuko ist ein Charakter ohne Hast, fest verwurzelt mit ihrer japanischen Kultur, der Leser wird Teil ihrer Gedanken, Ansichten und Einstellungen ... und mehr und mehr bekriecht einen das Gefühl, dass nicht alles so war wie es scheint, dass die Menschen um sie herum vielleicht anders waren, als Etsuko glaubte. Am Ende gibt es einen "Twist", den man leicht übersehen kann.


    Eine starke Geschichte über Trauer, Traumabewältigung, Mutterschaft, die eigene Wandlung und die rasante Weiterentwicklung eines Landes, das lange glaubte einzigartig zu sein.

    Daniel Kraus – Whalefall


    Ich hab's jetzt auch endlich durch und zitiere mal

    Jay hat sich in den letzten Jahren komplett von seiner Familie entfremdet und auf Grund der Erlebnisse in seiner Kindheit den Kontakt zu seinem Vater abgebrochen. Nicht einmal dessen bevorstehender Tod, konnte ihn zu einer Versöhnung bewegen. Nun ist sein Vater Tod und Jay beschließt, sich auf die Suche nachs einen sterblichen Überresten zu machen. Doch beim Tauchgang zu diesem Unternehmen passiert das Unglaubliche, Jay wird von einem Pottwal verschluckt und muss um sein Überleben kämpfen.

    Ich fand die Beziehung zwischen Jay und seinem Vater Mitt unglaublich interessant aber echt toxisch und übergriffig, gerade weil es auch so isoliert von seinen Schwestern und seiner Mutter stattfand. Mitt wollte aus seinem (einzigen) Sohn jemand anderen machen als Jay fähig und willig war zu werden und Jay hegte nach einem (weiteren) Vorfall bis ans Ende einen starken Groll gegen seinen Vater. Dieses Hauptthema, den Zwang des Vaters zu erleben und ständig darauf aufpassen zu müssen wie und was er zu ihm sagt, wenn er als 9-jähriger (noch) nicht verstehen kann, was seinen Vater antreibt, seine Leidenschaften, was es heißt zu tauchen und welche Gefahren im Meer lauern. Jay's Werdegang, die Unterdrückung und Überforderung durch den Vater, das im Schatten stehen dieses großen, berühmten Mannes, die Stigmatisierung der Gesellschaft, als Jay nicht bereit ist sich von seinem todkranken Vater zu verabschieden sowie die späte Auseinandersetzung mit dieser Beziehung, das Anerkennen der wirklich lebenswichtigen Dinge und die schlussendliche Befreiung vom Vater fand ich ganz großes Kino.


    Zum Thema Wal und Jay kann ich nur auf den Body Horror hinweisen. Jay beschreibt sehr genau wie und wo er im Wal feststeckt und wie er versucht zu entkommen. Das ist nix für flaue Mägen |) Der Wal hat derweil auch noch richtig hart mit äußeren Einflüssen zu kämpfen. Hinzu kommt natürlich auch, dass Jay die Luft ausgeht.


    Ich glaube, die fantastische Lesung des Hörbuches hat viel dazu beigetragen, dass ich der Geschichte noch mehr abgewinnen konnte als eh schon. Aber ja, die Kapitel, die nur aus einem oder zwei Sätzen bestehen, die hätte es nicht gebraucht.

    Charlotte Brontë – Jane Eyre


    Ich hatte diesen noch nie gelesenen Klassiker auf meinem SuB und war auch völlig ahnungslos worum es ging. Der Klappentext klang aber sehr interessant. Muss man hierzu viel schreiben? Jane Eyre, Waise von Lowood, bitterarm und von ihrer Ziehfamilie misshandelt, weiß sie schon mit 10 Jahren, dass sie so nicht behandelt werden will und mit einem unbändigen Willen und immer ehrlich zu sich selbst, findet sie ihren eigenen Weg im viktorianischen England und schließlich die große Liebe zu ihren Bedingungen...


    Großartig geschrieben mit einer nachvollziehbaren, starken, sich durchweg treu bleibenden, Persönlichkeit. Ein großer Favorit von mir für dieses Jahr.



    Ros Anderson – The Hierarchies


    Sylv.ie ist Sexbot. Eine teure, lebendige Puppe, geschaffen, um einem Mann zu Diensten zu sein, ihrem "Ehemann". Dieser lebt mit seiner (biologischen) Frau in einem großen Haus, am Rande einer Hauptstadt – Sylv.ie lebt im Obergeschoss, verlässt nie ihr Zimmer und wartet dort auf ihren Ehemann, der meistens abends kommt, Schach mit ihr spielt, sie in teure Kleider steckt, sich mit ihr unterhält und sich dann von Sylv.ie nimmt, wofür sie geschaffen wurde. Sylv.ie's Programmierung folgt einer Hierarchie an Regeln. Ihr Mann steht über allem. Was er sagt ist Gesetz. Was er möchte, dem hat sie Folge zu leisten. Als Sylv.ie nach einer Wartung in einem "Krankenhaus" wieder nach Hause kommt, merkt sie, dass viel mehr Zeit vergangen ist, als sie gedacht hat, Dinge haben sich verändert, ihr fehlen Erinnerungen und in ihrem Tagebuch findet sie beunruhigende Einträge in Binärcode, geschrieben von ihr selbst an sie selbst.


    Ein ernster, melancholischer Roman, der in einer dystopischen Zukunft voller menschenähnlicher Maschinen, Bots und Droids spielt, recht komplex, vage in der Beschreibung wie die Welt aussieht aber weitaus detaillierter in der Ausgestaltung von Sylv.ies Welten, da ausschließlich nur sie beschreiben kann, wie sie ihre Umwelt, und die in ihr geltenden Hierarchien, wahrnimmt. Mich hat das Ganze sehr an "Klara und die Sonne", "Detroit: Become Human" und an eine sehr dunkle Version von "Chihiros Reise ins Wunderland" erinnert. Ich fand's unglaublich gut aber auch echt traurig, wenn man die Parallelen zu heute zieht und sieht.

    Ich kann nur sagen, Stressoren addieren sich über den Tag. Wenn du sagst, fast jeden Abend kommt irgendwas vor, dann nimm den Hund (vorerst) nicht mehr mit oder schau genau hin, was tagsüber passiert und ob der Hund sich (wahrscheinlich) hier und da (mehr als sonst) aufregen musste.

    Es war ganz unmöglich, an diesem Tage einen Spaziergang zu machen. Am Morgen waren wir allerdings während einer ganzen Stunde in den blätterlosen, jungen Anpflanzungen umhergewandert; aber seit dem Mittagessen – Mrs. Reed speiste stets zu früher Stunde, wenn keine Gäste zugegen waren – hatte der kalte Winterwind so düstere, schwere Wolken und einen so durchdringenden Regen heraufgeweht, daß von weiterer Bewegung in frischer Luft nicht mehr die Rede sein konnte.

    Ich war von Herzen froh darüber: lange Spaziergänge, besonders an frostigen Nachmittagen, waren mir stets zuwider: – ein Greuel war es mir, in der rauhen Dämmerstunde nach Hause zu kommen, mit fast erfrorenen Händen und Füßen, – mit einem Herzen, das durch das Schelten Bessie's, der Kinderwärterin, bis zum Brechen schwer war, – gedemütigt durch das Bewußtsein, physisch so tief unter Eliza, John und Georgina Reed zu stehen.

    Die soeben erwähnten Eliza, John und Georgina hatten sich in diesem Augenblick im Salon um ihre Mama versammelt: diese ruhte auf einem Sofa in der Nähe des Kamins und umgeben von ihren Lieblingen, die zufälligerweise in diesem Moment weder zankten noch schrieen, sah sie vollkommen glücklich aus.


    Charlotte Brontë – Jane Eyre

    Matt Hill – Lamb


    "Als Lastwagenfahrer Dougie Alport einen tödlichen Anschlag auf den Hauptsitz seines Arbeitgebers verübt, löst seine Tat in seiner Frau Maureen eine Trauer aus, die ein Geheimnis zu lüften droht, das sie jahrelang vor ihrem Sohn Boyd verborgen hat. Ein Umzug in den Norden, um neu anzufangen, ist für Maureen die beste Lösung. Doch als die Wände zu schimmeln beginnen und seine Mutter ihm entgleitet, beschließt Boyd zu fliehen und findet Trost bei einem neuen Freund auf einer Mülldeponie am Rande der Stadt. Dort macht er eine verblüffende Entdeckung, die Boyds neues Leben auf den Kopf stellt und ihn zwingt, sich mit seiner Mutter, ihrer Vergangenheit und seiner Zukunft auseinanderzusetzen."


    Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Am Anfang steht Dougies Anschlag und sein Weg dahin, was es aus seiner kleinen Familie macht und welche Konsequenzen Maureen und ihr Sohn daraus ziehen. Danach erfährt man etwas über Maureens Vergangenheit und wie sie und Dougie sich kennengelernt haben. Schlussendlich geht es um Boyd, der versucht in der Welt klarzukommen und schließlich feststellt, dass seine Mutter jemand war, den er kaum kannte ...


    Als "Moos-bedeckter Mystery-Horror" beschrieben, liest sich die Geschichte, wie ich fand, leicht dahin, die Narrative ist melancholisch, eigentlich nicht spannend aber halt mysteriös, die Welt nicht ganz greifbar, scheinbar dystopisch. Es gibt nur wenige wichtige Charaktere, die Handlung ist reduziert aber es passieren eine Reihe an Dingen, die man ganz platzieren kann. Am Ende findet Boyd seine Erklärung, welche echt gruslig ist, und seinen Platz in seiner Welt.


    Claire Vaye Watkins – I love you but I've chosen darkness


    "Eine Schriftstellerin, die ihren Mann und ihre kleine Tochter zurücklässt, nimmt einen Flug nach Reno, um dort einen Vortrag zu halten, und hat außer einer Milchpumpe und einer postpartalen Depression nicht viel dabei. Ihre vorübergehende Flucht vor den häuslichen Pflichten und die Gelegenheit, alte Freunde wiederzutreffen, verwandelt sich in einen ausgedehnten Ausflug aus der Enge von Ehe und Mutterschaft und einen scheinbar bodenlosen Abstieg in die Vergangenheit. Tief in der Mojave-Wüste, in der sie aufgewachsen ist, begegnet sie ihren Geistern auf Schritt und Tritt: der ersten Liebe, deren Selbstzerstörung sie immer noch verfolgt; ihrem Vater, der Mitglied des Charles Manson-Kults war, der berühmtesten Sekte in der amerikanischen Geschichte; ihrer Mutter, deren Lebensfreude mit jedem Jahr abnimmt. Sie kann nicht in der Zeit zurückgehen, um irgendetwas davon wiedergutzumachen, aber was genau ist ihr Weg nach vorne? Allein in der Wildnis, beginnt sie endlich, sich in der Welt zurechtzufinden."


    Autofiktion in seiner reinsten Form, nenn ich das mal. Liest sich unglaublich schnell, super interessant, die Dialoge und Beschreibungen unfassbar gut. Claire hatte eine schwer zusammenfassbare Kindheit und Jugend, die geprägt war von der amerikanischen Wüste, Drogen, Sex und unzählbaren Freund- und Bekanntschaften. Jetzt, kurz nach der Geburt ihrer Tochter, muss Claire sich selbst stellen und herausfinden, welches Leben sie führen will.