Sehr schöne Idee, dieses Thema hier aufzumachen ...
Ich lebe in Griechenland und habe zwei Hunde von der Straße geholt. Mit meiner großen Apollonia (8 Monate) gibt es so gut wie keine Probleme. Sie ist sehr lebhaft, neugierig, gelehrig, aufmerksam und will immer gefallen.
Das ganze Gegenteil ist mein kleiner Hermes (4 Monate). Er war nicht mal vier Wochen alt als ich ihn fand. Er sprang mir vors Auto, lief völlig konfus auf der Straße umher und war in einem erbärmlichen Zustand. Wir vermuten, dass er ziemlich schnell nach der Geburt von seiner Mutter weg genommen und ausgesetzt wurde. Hier ist es ja üblich, dass man ungewollte Welpen direkt nach der Geburt in eine Plastiktüte packt und sie in den Müll wirft. Vielleicht war er so einer ...
Hallo Apollo,
erstmal herzlich Willkommen hier! Und dann meinen Respekt und ein dickes Danke dafür, dass Du Dich der beiden angenommen hast. Gleich zwei Junghunde in nur geringem Altersunterschied voneinander ist eine große Aufgabe, die Du vor Dir hast, besonders mit Hermes Vorgeschichte. Aber laß Dich davon nicht entmutigen, sondern eher anspornen.
Ich bin leider überhaupt nicht hundeerfahren und muss jetzt nicht nur lernen, mich grundsätzlich ins Verhalten eines Hundes einzudenken, sondern auch noch in das eines Problemhundes.
Lies einfach alles, was Du in die Finger kriegen kannst, über die "normale" Entwicklung eines Welpen, über Prägephasen bei Welpen, über die "normale" Entwicklung eines Junghundes, über das Üben des Alleine bleibens, etc. - nur eben immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass Dein Hermes eben ein besonderer Welpe ist....Er braucht Dich, um all seiner Unsicherheiten und Ängste Herr zu werden... Er hat in der kurzen Zeit seines bisherigen Lebens schon das Urvertrauen verloren - das Urvertrauen in das Leben an sich und ihm fehlt die ganz normale, unverwüstliche Einstellung eines Welpen "Ich bin da, wo ist die Äktschn?"
Was ich an meinem Kleinen beobachte:
- Angst, ganz großes Thema, alles was neu ist wird mit eingeklemmtem Schwänzlein beäugt und wenns geht, läuft er weg. Er wimmert auch und wehrt sich z.B. fremde Wohnungen zu betreten oder generell Orte, die er nicht kennt. Entsprechend schreckhaft ist er. Er hat Angst vor fremden Menschen, Autos, Mofas, Fahrrädern, anderen Hunden, Katzen, unbekannten Geräuschen, Staubsauger, Klospülung, Dusche, quasi alles
In einem gewissen Ausmaß ist es erst mal völlig normal, dass ein Welpe sich in der ersten Zeit nicht aus der heimischen Höhle "wagt" - das hat mit der Entwicklungsgeschichte der Hunde zu tun, die Höhle bedeutet Sicherheit und wenn die Hundemama nicht da ist, sollte kein neugieriger Welpe die Nase nach draußen strecken, um Opfer eines Feindes zu werden...Aber im Laufe der Zeit dehnt sich der Aktionsradius der Welpen allmählich aus, sie fangen an, ihre Umgebung zu erkunden und das versuchen wir Hundehalter mit den Übungen in der Prägungsphase nachzuahmen....
... Ich versuche nun, ihn den Dingen auszusetzen, dass er sich vielleicht dran gewöhnt.
Das ist ein völlig richtiger Ansatz, dessen Erfolg aber davon abhängig sein kann, WIE man vorgeht - vielleicht schreibst Du da noch mal ein wenig mehr zu. Wie Du Hermes an unbekannte Objekte heranführst, wie Du Euren Aktionsradius vergrößerst und welche Voraussetzungen bei Dir daheim da sind (Gaarten oder nicht, Stadt, Land, etc)
- Ich denke er hat Alpträume. Er schläft schlecht, bis er eingeschlafen ist, muss er sich mindestens 7 oder 8 mal drehen, er schreckt bei jeder Kleinigkeit hoch.
Dass auch Hunde ihre Erlebnisse des Tages im Traum verarbeiten, ist völlig normal. Was nicht schön ist, ist, dass er sich auch daheim nicht wirklich entspannen kann - das wäre für mich der erste Punkt, an dem ich ansetzen würde. Später dazu noch mehr.
- Er ist völlig hektisch und nervös.
Momentan ist Hermes wohl hoffnungslos überfordert. Überall prasseln Dinge auf ihn ein, vor denen er Angst hat und er hat noch nie lernen können, sich völlig zu entspannen. Momentan lebt er in einem enormen Streßpegel, steht unter Daueranspannung. Das gehört mit zu Deinem ersten Auftrag. Später mehr.
- Wenn er sich weh tut, rastet er total aus. Ich werte das zumindest als Panikattacke. Ich bin ihm mal aus versehen auf die Pfote getreten. Er hat geschrien, als würde er gleich sterben, ich dachte ich habe dem armen Tier das Beinchen gebrochen, so laut hat der geschrien. Nach 10 Minuten lief er aber wieder als wäre nie was gewesen.
Da kommt zu dem eh schon hohen Anspannungspegel noch der kurze (nicht mal unbedingt heftige) Schmerz dazu - die Hormone, die bei Schmerzen ausgeschüttet werden, ähneln denen, die in Gefahrensituationen ausgeschüttet werden - Hermes befindet sich dauerhaft in einem hohen Streßlevel und wenn dann noch was dazu kommt, in Form von Schmerzen, dann läuft das Faß über und es ist endgültig zu viel... Das laute Schreien ist eine Möglichkeit, diesen extrem hohen Streßhormon-Spiegel etwas abzubauen - ebenso, wie es körperliche Bewegung im sinne von Flucht wäre.... Schmerz kann und sollte in dem Alter in erster Linie eine sinnvolle Lernerfahrung sein, wie z. B. "wenn ich beim spielen zu sehr zwicke, zwickt der andere zurück", aber für Hermes kleinen Organismus ist es einfach nur noch ein Streßfaktor mehr...
- Verlustangst. Wenn ich mit der großen alleine spazieren gehe, ist der Supergau. Ich höre ihn dann noch in ca. einem Kilometer Entfernung schreien. Wenn die Große nicht da ist, aber ich schon, dann wird er nur unsicher und extrem ängstlich. Wenn die Große bei ihm bleibt und ich lasse die beiden alleine, hat er zum Glück kein Problem.
Das Allein-Bleiben-Können muss dem Welpen in kleinen Schritten beigebracht werden. Es ist völlig ok und bei zwei Junghunden, mit denen man auch oft mal alleine üben muss und soll, wichtig, dass sie das lernen, aber wie gesagt in ganz kleinen Schritten - bei einem "normalen" Welpen baut man das minutenweise auf, bei einem besonderen Welpen, wie Hermes, braucht man da unendlich viel Geduld. Das ist wieder der Faktor, dass Hermes eh unter Dauer-Streß steht und mit einem noch mehr nicht mehr klarkommen kann. Du merkst vielleicht schon - alles läuft darauf hinaus, den derzeit noch grundsätzlich vorhandenen Streßpegel zu senken. All diese Punkte hängen ineinander und gehören zusammen.
- Er sucht ständig Körperkontakt und folgt entweder mir oder dem großen Hund auf Schritt und Tritt. Hier weiß ich nicht inwiefern das bei einem Welpen normal ist.
Auch das gehört in Euer großes "Thema" und ist zunächst einmal auch für "normale" Welpen völlig ok. Er sucht Sicherheit bei Euch.
- Ich habe manchmal so das Gefühl, ich komme nicht an ihn ran. Ich bemerke kein Verhalten, dass er mir gefalln will, wie bei meinem anderen Hund. Was Apollonia mit drei Mal sagen lernt, dazu braucht er 30 Mal, ohne jetzt zu übertreiben und man hat nicht das Gefühl, dass er motiviert ist überhaupt was zu lernen ...
Hermes ist gefangen in seinen Ängsten und Unsicherheiten. Er ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um gefallen zu können oder überhaupt erst mal zu wollen...er ist einfach nur mit Überleben, irgendwie, beschäftigt.... Unter Dauerstreß kann man nicht lernen - das blockiert, er KANN einfach nicht... Aber Du kannst ihn da rausholen...
- Ich habe so den Eindruck, er ist in seiner Entwicklung seinem Alter hinerher.
Auch wieder die blockierende Wirkung des Dauerstresses. Er KANN sich nicht weiterentwickeln, weil ihm ein Großteil der nötigen Lernerfahrungen durch die Streß-Blockaden verwehrt ist.
- Stubenreinheit. Manchmal macht er zwei Wochen nicht in die Wohnung (groß), dann auf ein Mal wieder. Ohne erkennbaren Grund. Ich habe mich auch schn gefragt, ob er vielleicht keine Kontrolle über seine Blase hat. Er steht dann da und pinkelt und wenn ich schimpfe und mich aufrege, schaut er mich an und scheint völlig verwirrt zu sein, ohne zu wissen, was er jetzt gemacht hat.
Es ist völlig normal, dass ein Hund in diesem Alter seine Blase noch nicht hundertprozentig unter Kontrolle hat. Nicht schimpfen, sonst pieselt er noch mehr, nämlich um dich zu beschwichtigen. Dann ist es kein Wunder, wenn er Dich verwirrt anschaut - Du schimpfst, er beschwichtigt Dich welpengemäß durch Pieseln und du bist immer noch nicht zufrieden! Einfach ganz normal mit dem Stubenreinheit-Training weitermachen, lass Dir keinen Unmut anmerken, wenn drinnen was schief geht, sondern nimm ihn und geh mit ihm raus und wenn er draßen nachlegt, überschwänglich loben.... Das wird schon - er darf nicht nur noch zu allem anderen den Eindruck bekommen, dass drinnen ja auch noch Streß kommt... Noch dazu durch Dich und in Momenten, in denen er sich völlig welpennormal verhält...
Er hat mich auch schon zwei Mal angepinkelt ohne es zu merken. Im Schlaf und dann blieb er in seinem eigenen Pipi liegen. Er pinkelt ins Körbchen und sogar in den Futternapf.
Wer weiß, was er dann geträumt hat. Betrachte das Pinkeln drinnen erstmal als Ausdruck seiner Unsicherheit. Er kann noch nicht anders. Aber wie schon geschrieben, Du kannst ihn da raus holen.
Das ist mal vorerst alles was mir so einfällt. Sollte sich jemand dazu äußern wollen, bin ich dankbar ...