Ich finde diese gebetsmühlenartigen diskussionen auch langweilig. Vor allem, weil immer nur mit denselben Pro und Contra Argumenten geschossen wird. Dabei liegt die Wahrheit doch irgendwo dazwischen. Hat denn keiner Interesse, mal über immer denselben Schlagabtausch hinauszudenken?
Ich bin grundsätzlich der Meinung, Zucht muss kontrolliert werden.
Aber: Jeder, der sich mit Genetik beschäftigt, weiß, dass jede Verkleinerung des Genpools dazu führt, dass sich mehr Erbkrankheiten manifestieren und der Genpool insgesamt - ich drücks jetzt mal ganz laienhaft aus - "schwächer" wird. Wenig genetische Varianz beudetet weniger gerüstet sein gegen Parasiten, Krankheiten usw, weil die Varianz der genetischen Antworten auf "Angriffe" von aussen geringer wird.
Die gesamte Evolution baut darauf auf, einen möglichst großen Genpool zur Verfügung zu haben, der sich immer wieder neu kombiniert. So ist Sex entstanden - Fortpflanzung geht auch ohne Sex, wie beim Löwenzahn, der sich klont... aber das führt jetzt zu weit. Die Rekombination des verfügbaren genetischen Materials (Mutter/Vater Gene werden immer neu gemischt) führt zu ständig neuen Variationen. Gegen Inzucht hat die Evolution viele Schranken geschaffen, da sie den Genpool verkleinert und für Individuum und Spezies Nachteile bringt. Je Variantenreicher der Genpool einer Spezies, desto widerstandfähiger ist die Spezies als Ganzes. Wird der Genpool zu klein, führt das unweigerlich zum Aussterben der Spezies oder der Population (wenn eine Population z.B. vom Rest der Spezies abgeschnitten wird - ist sie groß genug, entsteht über die Zeit eine neue Art, ist sie zu klein, stirbt sie aus).
(Verzeiht mir die vielen Vereinfachungen, natürlich "plant" und "erschafft" die Natur nicht, die Prozesse der Evolution sind schon ein bisschen anders zu erklären, aber das ist das Ergebnis - wer nachlesen will, Literatur dazu gibt es zuhauf).
So etwas wie Rassen kann es in der Natur gar nicht geben, da eine so starke Betonung einzelner Merkmale nur erreicht, indem man den Genpool drastisch reduziert. Genau das ist Linienzucht. die Konzentration des Genpools, indem man Verwandte verpaart. Es gibt lokale Varianten, und es entstehen neue Arten, sobald die Varianz zu groß ist - und das ist NUR möglich, wennd er Genpool groß genug ist und sich oft genug rekombiniert. Eine Variante mit einem zu kleinen Genpool, die keinen frischen Input vom Rest der Spezies erhält, stirbt aus.
Daraus folgt, dass aus genetischer Sicht Linienzucht der Spezies Hund nicht förderlich sein kann. Sie ist "gut" dafür, äusserliche Merkmale herauszulösen und zu fixieren. Aber sie kann nicht gesund sein, weil jede Verkleinerung des Genpool ungesnd ist. jetzt noch Träger von Erbkrankheiten auszuschliessen ist natürlich erst mal sinnvoll, führt aber zu einer weiteren Verkleinerng des Genpools. Es wird also langfristig garantiert neue Probleme geben. Das ist keine Weissagung, sondern es folgt aus den Gesetzen der Evolutionsbiologie. Die sind gut dokumentiert und wissenschaftlich nicht umstritten (ausser natürlich in Detailfragen - v.a. wie genau entsteht Varianz überhaupt), wenn man nicht gerade Creationist ist.
Bevor es die gezielte Hundezucht auf Äusserlichkeiten und das Gebot der "Reinzucht" gab, gab es auch schon Hunderassen. Da sie aber Gebrauchshunderassen waren und nur sehr lose bis keine Vorschriften bestanden, wie genau der Hund aussehen soll, sondern nur zählte, zu was er fähig und geeignet sein muss, konnte viel öfter ein Individuum in die Zucht genommen werden, dass genetisch weit von den anderen Hunden dieser Rasse entfernt sein konnte - als Frisches Blut eingekreuzt werden. Äusserlich waren die Vertreter der Jagd- und Hütehundenrassen früher oft sehr unterschiedlich. Leider hat man später aus diesen verschiedenen Schlägen unterschiedliche Rassen gemacht und den genetischen Austausch abgeschnitten. Um Äusserlichkeiten besser festlegen zu können, nimmt man die Verkleinerung des Genpools in Kauf.
Der einzige Weg, das mit all seinen schrecklichen Folgen wieder rückgängig zu machen, ist den Genpool erst mal wieder zu vergrößern. Nur durch die Zufuhr von "frischem", also möglichst weitläufig verwandtem genetischen Material (und dann natürlich ohne Träger der bekannten Erbkrankheiten) können Erbkrankheiten in einer Rasse dauerhaft wieder in den Griff bekommen werden.
Von daher finde ich das Beharren auf Reinzucht, die Weigerung, Zuchtbücher für passende Individuen anderer Rassen zu öffnen, wie es Genetiker fordern, gefährlich. Schon die Kreuzung nah verwandter Rassen - früher Schläge einer Rasse - oder sogar nur die Kreuzung verschiedener Schläge innerhalb einer Rasse - wie Klein- und Großpudel - ist ja verpönt, führt dazu, dass die "Kreuzungsprodukte" keine Papiere bekommen.
Warum? Weil man dann äussere Merkmale schlechter voraussagen kann. Stimmt. Aber die zuverlässige Fixierung äusserer merkmale hat eben einen sehr hohen Preis - ist man wirklich bereit diesen zu zahlen?
Das einzige vergleichbare Langzeit-Genetik-Experiment des Menschen ist die Pferdezucht. Dort wird ebenso eine starke Linienzucht betrieben, jedoch gleichzeitig bewusst Fremdblut eingebracht. Viele unserer heutigen europäischen Pferderassen wären ohne immer wieder eingebrachtes Araberblut nicht denkbar. In der Pferdezucht nennt man das Veredelung.
Die wenigen Rassen mit geschlossenen Stutbüchern (also kein Fremdblut) haben entweder einen großen Genpool (Isländer) oder es treten prompt ähnliche Probleme auf wie in der Hundezucht (Friese).
Statt pro und Contra VDH sollte man - meiner Meinung nach - darüber nachdenken, was man da eigentlich genau treibt. Was zählt sind nicht irgendelche Papiere, was zählt ist die Natur. Denn Naturgesetze können wir nicht ändern, egal wie gerne wir Gott spielen!