Hallo Jilseponie,
ZitatZu "unserer" Situation:
Sie, Emma, Hündin, aus Rumänien von der Straße, Vorgeschichte ansonsten unbekannt, ca. 10-12 Monate alt.
Ich, Gassigeher im örtl. Tierheim, relativ Hundeunerfahren und dementsprechend manchmal ein wenig ratlos, habe mir vorgenommen jetzt etwas mehr mit Emma zu arbeiten.
Auch wenn Du es sicher gut meinst, halte ich das für eine schwierige Kombination - mal 'einfach so' an einem Hund herumdoktern kann gut gehen, muss aber nicht. Hat/Kennt das Tierheim keinen Hundetrainer, der Dir wenigstens am Anfang mal zur Seite stehen und Dich beraten könnte?
ZitatLeider kam sie ca. 2 Wochen später wieder zurück. Grund: Sie sei absolut ängstlich, würde zu Hause in ihrer neuen Familien nicht mehr vor die Tür gehen und teilweise wenn "die Familie sie dazu bringen wolle" Zähne zeigen.
Seit sie wieder da ist, ist sie um ein vielfaches ängstlicher als vorher und so leider absolut nicht mehr vermittelbar.
Emma ist im Tierheim ein ganz toller Hund. Verschmust, freundlich, aufgeschlossen, neugierig, andere Rüden gar kein Problem, Hündinnen meist auch nicht.
Dass sie zurück kam, kann man der 'neuen Ex-Familie' wirklich nicht verübeln. Dieser Hund war meiner Meinung nach von Anfang an nicht vermittelbar - es sei denn, die neue Familie wurde ausdrücklich schon mit der Beschreibung, dass er nicht Gassi gehen möchte, konfrontiert. So oder so, der Rückgabegrund war ja keine Ausrede, sondern schildert ein Verhalten, das die Hündin ja auch zeigt. Der Hund kommt aus Rumänien und lebte, nehme ich an, entweder auf der Strasse oder im Tierheim: das Konzept 'Gassi', wie wir das kennen, ist ihm wahrscheinlich völlig fremd und müsste ihr erst antrainiert werden. Das ist in dem Sinne kein Verhaltens- sondern ein hausgemachtes Problem: der Hund hat einen Kulturschock. Plötzlich prassen tausende von neuen Eindrücken auf ihn ein. Auf der Strasse hätte er sich diesen selbstständig entziehen, bzw. Einfluss darauf nehmen können, ob er sich mit diesen überhaupt auseinander setzen oder lieben fliehen möchte. Jetzt ist er aber an einer Leine und kann nicht mehr fliehen.
ZitatAlleine das Tierheim verlassen: Nicht möglich. Sie macht keinen Schritt. (Solange man auf dem Gelände ist, geht sie eigentlich an der Leine überall mit hin). Mit vielen Leckerli kommt man evtl noch 10 Meter vom Eingangstor weg. Danach legt sie sich hin, oder besser gesagt, kauert sie sich ins Gras, und geht keinen Meter mehr weiter.
Das ist in dem Sinne kein Verhaltens- sondern ein hausgemachtes Problem: der Hund hat einen Kulturschock. Plötzlich prassen tausende von neuen Eindrücken auf ihn ein. Auf der Strasse hätte er sich diesen selbstständig entziehen, bzw. Einfluss darauf nehmen können, ob er sich mit diesen überhaupt auseinander setzen oder lieben fliehen möchte. Jetzt aber hängt man ihn plötzlich an eine Leine und nimmt ihm die Möglichkeit zur Flucht. Der Hund wählt hier noch die netteste Variante: er kauert sich ins Gras und wählt somit die einzige Art von 'Flucht', die ihm noch geblieben ist. Genausogut könnte er um sich beissen oder auf alles los gehen, was ihm nicht geheuer ist. Das Problem ist nicht, dass der Hund nicht leinenführig ist, sondern er seiner Umgebung nicht traut. Soll sich das ändern, muss man ihm zeigen, dass dieser neue Ort durchaus seine guten Seiten hat. Manche ehemalige Strassenhunde lernen das irgendwann, andere nie. Letzteren hat man keinen Gefallen getan, sie in ein neues Land zu transportieren.
Ich würde an den 10 Metern arbeiten, die sie ja schon mit Dir kommt - aber sie keinesfalls zwingen, weiter weg zu gehen. Sie muss jetzt noch nicht weiter weg, sondern soll Vertrauen aufbauen. Das wird aber nicht damit aufgebaut, dass man sie dauernd durch die Gegend schleppt und sie immer wieder die Erfahrung machen muss, dass Menschen sie bloss in fürchterlich unsichere Gebiete bringen. Futter gibt es (zumindest an dem Tag, an dem Du da bist) nur in den kritischen 10 Metern - verlange aber nichts Unmögliches. Geht sie die 10 Meter gern und folgt Dir willig, kannst Du einen, oder zwei Schritte weiter gehen und ihr das Futter dort anbieten. Arbeite nicht zu schnell - das kann Wochen dauern. Kontrolliere Dein Umfeld und stelle sicher, dass ihr während Du mit ihr arbeitst, auf keine anderen Hunde triffst, bzw. nur auf solche, die angeleint sind und halte so viel Distanz wie möglich. Biete ihr dann Futter an, wenn ihr einen anderen Hund seht.
ZitatNimmt man ihren Kumpel mit zum Gassi gehen, ist es wiederum kein Problem. Dann folgt sie ihm eigentlich überall mit hin.
(soweit so gut, ist ja immerhin schonmal ein Anfang).
Ein anderer, bereits 'zivilisierter' Hund gibt ihr - wie bei Strassenhunden sehr häufig - mehr Sicherheit. Sie wäre in einem Mehrhundehaushalt also wahrscheinlich besser aufgehoben.
Zitat
Beruhigend streicheln? - Dann denkt sie doch nur, dass sie berechtigte Angst hat, oder?
Ignorieren? - Wie kann sich die Situation dann bessern?
Weiterzerren? - Druck bei einer ängstlichen Hündin aufbauen wiederstrebt mir...
Während manche Trainer mittlerweile sagen, dass Angst sich durch Zuneigung nicht verstärken lässt, und abgesehen davon, dass Streicheln alleine die Situation auch nicht verbessern wird, hast Du hier schon die richtige Intuition: alle diese Varianten sind nicht eben weiterführend. Was also tun? Den Hund erstmal gar nicht in die Situation kommen zu lassen und Dir bis dahin überlegen, was Du vom Hund willst, anstatt Dir darüber den Kopf zu zerbrechen, welches Verhalten Du vom Hund nicht willst.
Zitat- Trennen von dem Rüden ohne Weltuntergang zu beschwören
Vorm Gassigehen schonmal auf dem Gelände von ihrem Kumpel wegführen, entspannen lassen. Beim Gassigehen mit ihm auch mal um eine Ecke verschwinden (mein Mann geht immer mit). Im TH von ihm wegführen ist schon fast kein Problem mehr.
Außerhalb sich kurz trennen, wird langsam auch akzeptiert. Aber alleine weitergehen ist noch nicht möglich. Sie wartet dann halt auf ihren Kumpel.
Verständlich. Gerade vertrauenserweckend sind die Massnahmen, die Menschen mit ihr machen, bisher ja nicht. Kommen die, wird man gefesselt und von der einzigen psychischen Stütze, die man in diesem unbekannten Umfeld noch hat, weggeführt...
Zitat
Mir ist bewusst, dass eigentlich täglich mehrfach mit ihr geübt werden müsste. Vor allem die Basics. Dafür hat das Personal aber keine Zeit. Ebenso wenig wie ich.
Und hier merkst Du ja selber, dass das Unterfangen, das Du Dir aufgehalst hast, ethisch vielleicht löblich, praktisch dann aber doch schwierig ist. Denn: wer arbeitet mit dem Hund, wenn Du nicht da bist? Nur Du oder darf in dem Tierheim einfach jeder mal an jeden Hund ran, der gerade lustig ist, Zeit und eine neue Idee hat? Werden die neuen Besitzer mit Trainingsanleitungen unterstützt oder ist jeder einfach ein Versager und kein richtiger Tierfreund, der den Hund wieder zurück bringt? Wenn das Personal keine Zeit hat, mit dem Hund zu trainieren: ist dann trotzdem garantiert, dass der Hund an den Tagen, an denen Du nicht da bist, nicht doch 'Gassi' geführt wird? Dann bliebe Deine noble Absicht leider nichts weiter als das.