Blöd ist, wenn du gar nicht weißt, womit du es zu tun hast. Bei Chucky dachten wir, die ist einfach anders als andere Hunde, hat ein paar Macken und nen kleinen Dachschaden.
Wir kannten ihre Vorgeschichte nicht. Ein Freund bekam sie beim Gassigehen mit seinem Hund regelrecht aufgeschwatzt. Der Typ meinte, der Hund käme aus der Kampfhundszene "Papa ist Champion in Jugoslawien", am Ende wollte er wissen, wo er einen "reinrassigen Pitbull" herbekommt. Bevor ich sie von meinen Freunden nach einem Monat dort, wo sie mit deren Hunden zusammenlebte, übernahm ging ich öfter mit ihnen zusammen Gassi und besuchte sie häufig. Sie wirkte auf mich erst einmal völlig normal, gut vllt. etwas überdreht, aber sie sollte ja auch erst 6 Monate alt sein. Sie kannte weder Kommandos noch Freilauf, noch Gassi, noch war sie stubenrein aber okay, hatte sie eben alles nicht gelernt, kann man ihr ja beibringen. Das einzige, was mir auffiel war, dass sie panische Angst vor Menschen mit stockartigen Gegenständen in der Hand hatte.
Mit ca. 7 Monaten zog sie bei mir ein und mir wurde sehr schnell klar, dass sie kein "normaler" Hund war. Sie war hyperaktiv, sie kam nie zur Ruhe, dementsprechend konnte ich ihr nichts beibringen. Ich fuhr mit ihr die ersten 3 Monate jeden Tag von früh bis Sonnenuntergang ins Grüne, ließ sie ihre Umwelt möglichst ruhig entdecken, ließ sie aber auch mit anderen Hunden spielen. Sie wirkte wie ein Welpe mit 8 Wochen, schnuffelte an Blümchen, jagte Grashalme im Wind, Insekten usw. Ich sorgte nicht für Action, sondern saß oder lag einfach auf der Wiese, las ein Buch. Diese ersten Monate brachte sie mich an den Rand der Verzweiflung. Ich dachte auch teilweise ich würde völlig versagen und dass es irgendwie an mir liegt, bis hin zu dass ich sie abgeben müsste, weil sie mich einfach überfordert. Abgesehen davon, dass ich niemanden kannte, der diesen Hund übernommen hätte, wollte ich sie ja haben und dann muss ich eben auch da durch...
Nach den ersten drei Monaten wurde sie "ruhiger", nicht vergleichbar mit anderen Hunden. Was ich neben ihrer Hyperaktivität und Welpenhaftigkeit noch bemerkte waren einige (wir nannten das so) "Macken". Z. B. Plastiktüte lag auf der Wiese, Hund bekommt nen Anfall. Ich hatte einen Gummibaum in der Wohnung, ein Blatt fiel runter, Chucky rannte panisch in den nächsten Raum und verkroch sich dort zitternd. Das passierte mit Allem was zu Boden fiel oder schwebte und ich bekam es ihr Leben lang nicht aus ihr heraus, außer dass sie später nicht mehr ganz so panisch reagierte. Weihnachtsbäume waren jedes Jahr wieder gruselig, wie alle irgendwo abgestellten Sachen, oder auch Leute, die auf Parkbänken schliefen, oder umgestellte Möbel in der Wohnung, egal wie oft ich ihr diese Dinge zeigte, wir fingen immer wieder bei 0 an. Manchmal sah sie auch Geister, starrte in die Gegend, bellte die Luft an, oder erschrak sich vor ihrem eigenen Schatten. Und manchmal erkannte sie mich nicht, wenn ich aus einem anderen Raum kam, dann machte sie eine Bürste und knurrte und bellte mich an, bis ich sie ansprach, dann war alles wieder okay. Über Gitter lief sie nie, im Treppenhaus lief sie nie am Geländer die Treppe hoch, sondern nur an die Wand gequetscht, in Einkaufzentren konnte man sie nicht mitnehmen, Spiegel waren gruselig und alles was mit Höhe zu tun hatte sowieso.
Dann wurde sie ständig läufig, scheinträchtig und hatte ausgeprägte Scheinmutterschaften. Das Ganze viermal in einem Jahr. Sie reagierte immer überreizter (sie hatte das schon ansatzweise von Anfang an mit dem Schnappen bei schnellen Bewegungen am Besten noch kombiniert mit lauten Geräuschen) und begann sich mit anderen Hündinnen zu raufen. In alles, was sich bewegte, musste reingeschnappt werden, Joggerwaden, Inliner, Skateboards, Fahrräder wurden anvisiert, es wurde immer schlimmer bis sie sogar im Dunkeln einer beleuchteten Tram hinterherjagen wollte. Ich ließ sie auf Anraten der TA's kastrieren und trainierte mit ihr. Wir bekamen es wieder hin, es dauerte natürlich recht lange und ich rief sie eigentlich ihr Leben lang in solchen Situationen zu mir, führte sie dran vorbei.
Außenstehende sahen das alles nicht, für sie war Chucky ein ganz normaler Hund, außer vllt. etwas sehr nervig und aufdringlich. Entweder kamen Kommentare wie: "Lass ihr doch mal Freiheiten" oder "Du musst ihr mehr Grenzen setzen/ihr zeigen, wer der Boss ist". Ich hielt es dann so, alles was für den normalen Alltag in der Großstadt absolut wichtig war und Grundgehorsam/Abrufbarkeit, daran arbeitete ich mit ihr, alles andere nahm ich in Kauf, z.B. ihr aufdringliches Gequietsche, das gehörte dann eben einfach zu Chucky. Hektik wurde vermieden. Sie war intelligent, wir übten oft neue Tricks, die lernte sie super schnell und hatte auch großen Spaß dran. Und sie hatte von Anfang an ein unglaubliches Vertrauen zu mir, entfernte sich auch nie weit von mir. Was nicht ging war jegliche Art von Druck, Schimpfen mit dem anderen Hund oder Chucky Ignorieren. Dann brach sofort ihre kleine Welt zusammen.
Als ich das dann alles wusste, wir die wichtigen Baustellen in den Griff bekommen hatten und ich sie eben so annahm, wie sie war, wurden wir ein spitzen Team. Ich vermisse immer noch ihre ganze Art, wie sie jeden Morgen vor meinen Bett saß und darauf wartete, dass ich die Augen endlich öffne, um dann einen Freudentanz mit Gesang aufzuführen. Eine wie Chucky? Immer wieder!