Ines Bayard - "Scham"
"Scham", vor wenigen Jahren erschienen, kann als gelungener und schockierender französischer Beitrag zur "MeToo"-Bewertung gelesen werden. Die junge Autorin erzählt in ihrem ambitionierten Erstlingswerk von Marie, einer Pariser Vermögensberatin in einer Bank, in deren Leben zunächst alles nach Plan zu verlaufen scheint: Sie ist gut in ihrem angesehenen Beruf, verheiratet mit dem erfolgreichen Anwalt Laurent, eine pflichtbewusste und doch jeden Tag genießende Frau Anfang Dreißig aus gutbürgerlichem Hause, behütet aufgewachsen, keine Revoluzzerin oder Rebellin, sondern angepasst, mitunter ein wenig konservativ, eher keine Feministin, aber doch eine "Powerfrau", die nach einem langen Arbeitstag noch stundenlang aufwändige Gerichte zubereitet, um ihren Ehemann damit zu überraschen.
Marie und Laurent haben sich gerade dazu entschieden, ein Kind zu bekommen, da ändert sich Maries idyllisches Dasein abrupt: Nach einem fordernden Arbeitstag möchte sie mit dem Rad heimfahren, dieses wurde jedoch mutwillig zerstört, da taucht der neue Bankdirektor in seinem Auto auf, bietet ihr an, sie mitzunehmen. Eigentlich möchte Marie das lieber nicht, die Situation ist ihr unangenehm, doch aus Höflichkeit stimmt sie zu. Im Auto dieses Mannes wird sie brutal vergewalt*gt, anschließend droht er ihr, sie und ihren Mann beruflich zu ruinieren, wenn sie den Mund aufmacht. Marie steigt aus, taumelt nach Hause, duscht, wirft ihre besudelten Klamotten weg - und erzählt niemandem von der grauenvollen Tat. Aus Scham, aus Angst davor, wie dies ihr weiteres Leben verändern könnte, und weil sie nicht möchte, dass Laurent sie plötzlich mit anderen Augen sieht, als Opfer.
Kurz darauf ist Marie schwanger. Ihr Mann ist hocherfreut, schwebt auf Wolke 7, doch Marie ist sich sicher, dass er nicht der Vater des in ihr wachsenden Kindes ist, verfällt zunehmend in eine Depression, hat Albträume, vernachlässigt sich, kann ihren Beruf nicht mehr so voller Elan und Ehrgeiz wie früher ausüben, und nach der Geburt des Kindes kann sie keine Liebe für den Säugling empfinden, keine Zärtlichkeit, meidet ihren Sohn, vernachlässigt nicht nur sich selbst, sondern auch ihn.
Der Roman nimmt sein Ende bereits vorweg: Schon auf den ersten Seiten erfährt man, dass Marie sich selbst, ihren Mann und den kleinen Sohn vergiftet hat, dann erst wird aufgerollt, was in den Monaten zuvor geschah und wie die Katastrophe zunehmend ihren Lauf nahm... Somit hat "Scham" vielleicht nicht die Spannung eines Psychothrillers, aber das ist ja auch gar nicht die Absicht der Autorin, vielmehr nimmt sie Maries Fall her, um die sexuelle Gewalt an Frauen aufzuzeigen, sichtbar zu machen, die Unterdrückung, das Unverständnis der Gesellschaft, die fundamentale Einsamkeit, Verzweiflung und Wut der missbrauchten Frau.
Bayard bedient sich dabei einer schmucklosen, schlichten, nüchternen Sprache und eines kühl-distanzierten Blicks, ohne dabei jedoch an psychologischem Scharfsinn zu verlieren. Manchmal wirken die von der Autorin gewählten Worte bewusst provokativ ausgesucht, als Leser zuckt man zusammen, verzieht das Gesicht, wird aber gleichzeitig mit der schmerzlichen Tatsache konfrontiert, dass Bayard lediglich die Realität wiedergibt, dass es vermutlich sogar noch unangemessener wäre, Brutalität in schöne Worte zu kleiden und dadurch zu verharmlosen und zu verniedlichen.
"Scham" ist nicht perfekt, es gibt durchaus Kleinigkeiten, die man gerechtfertigterweise kritisieren kann, die junge Autorin möchte sehr vieles unterbringen in ihrem Debüt, was ab und zu dann doch etwas zu gewollt wirkt, hier würde "Weniger ist mehr" ein guter Ratgeber sein. Nichtsdestotrotz handelt es sich um ein beachtliches Werk, das es verdient, gelesen zu werden.