Hallo Dornenrose
Auch von mir ein grosses Wow dafür, was ihr alles schon geschafft habt. Das ist richtig toll und spricht sehr für Dich. Ich habe keine Zweifel daran, dass Euch Eure gute Zusammenarbeit und das Zusammenwachsen auch in der Zukunft noch helfen wird.
Es ist allerdings kein Wunder, dass es ausgerechnet bei dieser letzten, 'grössten' Baustelle noch hapert.
Ihre Tage bestanden darin, am Gartenzaun Autos zu jagen. Hin und her, den ganzen Tag. Die Leute dachten, das sei gut, da sie ja Bewegung und Frischluft hatte.
Sie musste von diese Familie dann sehr schnell weg, weil sie startete, über den Zaun zu klettern und nur noch in die Waschküche gesperrt werden musste.
Vielleicht bist Du Dir dessen bereits bewusst, der Vollständigkeit halber möchte ich das Problem, welches diese 'Aufzucht' - gerade bei einem Koppelgebrauchshund - mit sich bringt, trotzdem kurz erläutern:
Diese Art von Hund - und gerade Border Collies in Extremform - besitzt in der Jugend eine Art Zeitfenster, in der sie lernt, was 'hütbar' ist und was nicht. Die genetische Veranlagung zu hüten wurde bereits vorgeburtlich angelegt. Was allerdings als hütbares Objekt identifiziert wird, hat stark damit zu tun, welchen Reizen der Hund zwischen ungefähr 6-14 Monaten ausgesetzt wird. Mit spätestens 2.5 - 3 Jahren wird im Hirn dann fest verankert, was gehütet werden kann und was nicht. Mit anderen Worten: das biologisch vorgegebene Zeitfenster schliesst sich, währenddessen der Hund lernen kann, was ihm die immens selbstbelohnende Hormonausschüttung beschert, die zu suchen er genetisch vorprogrammiert ist.
Konkret: wenn ein Border Collie in diesem Zeitraum gelernt hat, dass es Schafe, Kühe, Gänse, etc. sind, wo man diesen 'Trieb' ausleben kann, sind das schon einmal keine schlechten Voraussetzungen dafür, dass dieser Hund der Aufgabe, für die er ursprünglich gezüchtet wurde, nachgehen werden kann.
Hat ein Hund diese Möglichkeit allerdings nicht erhalten und wurde ihm auch kein anderes, in unserer Gesellschaft akzeptables Objekt zur Kanalisierung seiner Veranlagung geboten (Bälle, Zergel, etc.), wird er sich unweigerlich selbst ein Ventil dafür suchen. Beliebt - und prädestiniert - dafür ist jegliches Objekt, das sich bewegt. Je schneller und erratischer dieser Bewegungsreiz ist, desto besser: Beine, flatternde Hosen, Kinder, Fahrräder, Motorräder, Schatten etc. - oder eben, auch sehr beliebt, Autos.
Das Problem: Dein Hund wird in diesen für die Hirnentwicklung kritischen Jahren und der stetigen Beschäftigung mit diesem Reiz als auch der dauerhaften dadurch erfahrenen Selbstbelohnung eine dermassen starke Verknüpfung in seinem Hirn etabliert haben, dass - ich formulier das jetzt etwas böse - ein bisschen Gegenkonditionierung (egal ob da über Belohnung oder Bestrafung gearbeitet wird) da nur begrenzt wirken kann.
Das bedeutet also, dass Du diese Reizaffinität wohl kaum jemals 'vollständig' auflösen und durch Erziehung beseitigen kannst. Da Du aber durchaus zu wissen scheinst, was Du da tust und bereits viel Erfahrung mitbringst - und mit diesem bestimmten Hund in sehr kurzer Zeit bereits viel erreicht hast - bin ich zuversichtlich, dass es Dir gelingen kann, den Hund bei Fahrrädern und Autos zumindest in Deiner Anwesenheit und unter Deiner Führung kontrollierbar zu machen. Ich würde mich realistischerweise allerdings verabschieden vom Gedanken, dass das Problem 'per se' jemals vollständig gelöst werden kann.
Mein Ansatz bei solchen Hunden ist folgender: ich fahre mehrgleisig und baue mir so viele 'Hilfsanker' für die Notsituation ein, wie irgend möglich:
1) Einerseits baue ich eine so starke klassische Konditionierung auf, dass ich ihn in möglichst jedem Moment aus 'dem Tunnel' holen kann. Meine Wahl ist da jeweils ein Clicker. Ich beginne in absolut ruhiger, stressfreier Umgebung und bau mir eine so starke Belohnungshistorie auf, dass der Hund sich irgendwann auch in stärkerer und zuletzt extrem starker Umgebung umlenken und belohnen lässt. Deshalb will ich
2) den Hund auf verschiedene Arten belohnen können. Dass ein Hund z.B. Futter nimmt oder auf einen Ball anspricht, lässt sich trainieren. Klingt komisch, ist aber unverzichtbar: ich kann einen Hund auch darauf trainieren, in jeder Situation verschiedene Arten von Belohnungen anzunehmen (z.B. Futter aus der Hand zu nehmen, der Futterhand zu folgen, gestreutes Futter auf dem Boden zu suchen und aufzunehmen, mit Spielzeug zu zergeln, Spielzeug als Schnuller zu benutzen etc.)
3) Der Hund wird so geführt, dass er weder für mich, noch für andere oder sich selbst eine Gefahr darstellt. Das bedeutet eben auch, dass ich ihn nicht zu 'Trainingszwecken' durch die halbe Stadt schleife und jeden Tag an den Rand (oder über) seine mentalen Kapazitäten bringe, sondern extrem dosiert an seinem (und meinem!) Stresslevel arbeite.
4) Ich bringe dem Hund bei, alleine zu sein und diese Phasen zu nutzen, total zu entspannen und zu schlafen. Das gibt mir die Möglichkeit, meinen eigenen Kopf frei zu machen und meinen eigenen Dingen nachzugehen. Dem Hund ermöglicht es, das Gelernte zu verarbeiten und sich zu erholen.
5) Ich suche nach einzelnen Triggern, also Auslösern für den Hund und exponiere ihn (aber erst nach wirklich 100% zuverlässiger Konditionierung wie beschrieben in Schritt 1) und 2)) ganz langsam und niederschwellig einzelnen Elementen. Ich spiele Autogeräusche ab, stelle mich 500 Meter entfernt an eine Strasse, etc. Das aber so dosiert, dass der Hund sich noch jederzeit kontrollieren lässt. Dabei geht es eben nicht darum, dass der Hund irgendetwas 'aushält' - dann ist das Erregungslevel schon viel zu hoch, sondern dass er mit dem ihm präsentierten Reiz bereits möglichst unaufgeregt umgehen kann.
Dazu kommen noch einige andere Bausteine, die ich jetzt aber nicht auch noch ausführen will.
Weshalb ich gerade dabei möglichst über positive Verstärkung arbeite? Weil mein Umlenken des Hundes in der 'unkontrollierbaren Situation' derjenigen Emotion, die der Hund dadurch sucht, möglichst nah kommen soll. Der Hund holt sich durch sein Verhalten einen Kick: wenn ich diesen durch Strafe einfach nur unterdrücke, erzeugt das Frust. Wenn ich diesen aber zumindest ein wenig abfangen kann und einerseits das (von mir) unerwünschte Verhalten verhindern und ihm zweitens aber einen alternativen (wenn - ehrlicherweise natürlich auch sehr viel geringeren) Kick bieten kann, komme ich sehr viel schneller sehr viel weiter.
Der Hund ist viel eher bereit, mir zu folgen und sich auf mich und meine Vorschläge einzulassen, als wenn ich nur über Strafe arbeite. Abgesehen müsste man bei derartigen Hunden so starke Strafreize setzen, dass das weder mit meiner ethischen Grundhaltung noch mit dem Tierschutzgesetz in irgendeiner Weise vereinbar wäre. Dazu ist es fraglich, ob bei einem so stark fixierten Verhalten Strafreize überhaupt in irgend einer Weise nachhaltig wären.
Belohnungen kann ich, solange ich eine solide Belohnungshistorie aufrechterhalte, immer niederschwelliger gestalten - so kann ich nach genügend (funktionierendem) Training einen Hund auch mal durchaus ohne alle Hilfsmittel aus einer Notfallsituation bringen. Und genau dafür trainiere ich ja.
Bei strafbasiertem Training funktioniert das genau umgekehrt: der Strafreiz muss immer stärker werden um zu wirken, falls das unerwünschte Verhalten wieder auftritt. Die Eskalationskurve steigt nach oben anstatt nach unten - was den Stresslevel für alle noch zusätzlich erhöht. Ich arbeite ja aber genau auf das Gegenteil hin: ich will nicht dauerhaft unter Strom stehen, sondern langfristig eben zu Entspannung kommen.